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The Project Gutenberg EBook of Unterm Rad, by Hermann Hesse
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Title: Unterm Rad
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Author: Hermann Hesse
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Release Date: September 8, 2015 [EBook #49908]
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Language: German
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*** START OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTERM RAD ***
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Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski, and the
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Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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Fischers Bibliothek
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zeitgenössischer Romane
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Unterm Rad
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Roman von
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Hermann Hesse
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S. Fischer, Verlag, Berlin
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Alle Rechte, insbesondere das der Übersetzung, vorbehalten.
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Erstes Kapitel
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Herr Joseph Giebenrath, Zwischenhändler und Agent, zeichnete sich durch
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keinerlei Vorzüge oder Eigenheiten vor seinen Mitbürgern aus. Er besaß
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gleich ihnen eine breite, gesunde Figur, eine leidliche kommerzielle
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Begabung, verbunden mit einer aufrichtigen, herzlichen Verehrung des
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Geldes, ferner ein kleines Wohnhaus mit Gärtchen, ein Familiengrab auf
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dem Friedhof, eine etwas aufgeklärte und fadenscheinig gewordene
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Kirchlichkeit, angemessenen Respekt vor Gott und der Obrigkeit und
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blinde Unterwürfigkeit gegen die ehernen Gebote der bürgerlichen
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Wohlanständigkeit. Er trank manchen Schoppen, war aber niemals
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betrunken. Er unternahm nebenher manche nicht einwandfreie Geschäfte,
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aber er führte sie nie über die Grenzen des formell Erlaubten hinaus. Er
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schimpfte ärmere Leute Hungerleider, reichere Leute Protzen. Er war
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Mitglied des Bürgervereins und beteiligte sich jeden Freitag am
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Kegelschieben im »Adler«, ferner an jedem Backtag sowie an den Voressen
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und Metzelsuppen. Er rauchte zur Arbeit billige Zigarren, nach Tisch und
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Sonntags eine feinere Sorte.
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Sein inneres Leben war das des Philisters. Was er etwa an Gemüt besaß,
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war längst staubig geworden und bestand aus wenig mehr als einem
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traditionellen, barschen Familiensinn, einem Stolz auf seinen eigenen
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Sohn und einer gelegentlichen Schenklaune gegen Arme. Seine geistigen
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Fähigkeiten gingen nicht über eine angeborene, streng abgegrenzte
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Schlauheit und Rechenkunst hinaus. Seine Lektüre beschränkte sich auf
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die Zeitung, und um seinen Bedarf an Kunstgenüssen zu decken, war die
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jährliche Liebhaberaufführung des Bürgervereins und zwischenhinein der
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Besuch eines Zirkus hinreichend.
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Er hätte mit jedem beliebigen Nachbarn Namen und Wohnung vertauschen
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können, ohne daß irgend etwas anders geworden wäre. Auch das Tiefste
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seiner Seele, das schlummerlose Mißtrauen gegen jede überlegene Kraft
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und Persönlichkeit und die instinktive, aus Neid erwachsene
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Feindseligkeit gegen alles Unalltägliche, Freiere, Feinere, Geistige
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teilte er mit sämtlichen übrigen Hausvätern der Stadt.
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Genug von ihm. Nur ein tiefer Ironiker wäre der Darstellung dieses
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flachen Lebens und seiner unbewußten Tragik gewachsen. Aber dieser Mann
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hatte einen einzigen Knaben, und von dem ist zu reden.
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Hans Giebenrath war ohne Zweifel ein begabtes Kind; es genügte, ihn
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anzusehen, wie fein und abgesondert er zwischen den andern herumlief.
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Das kleine Schwarzwaldnest zeitigte sonst keine solchen Figuren, es war
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von dort nie ein Mensch ausgegangen, der einen Blick und eine Wirkung
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über das Engste hinaus gehabt hätte. Gott weiß, wo der Knabe die
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ernsthaften Augen und die gescheite Stirn und das Feine im Gang her
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hatte. Vielleicht von der Mutter? Sie war seit Jahren tot und man hatte
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zu ihren Lebzeiten nichts Auffallendes an ihr bemerkt, als daß sie ewig
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kränklich und bekümmert gewesen war. Der Vater kam nicht in Betracht.
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Also war wirklich einmal der geheimnisvolle Funke von oben in das alte
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Nest gesprungen, das in seinen acht bis neun Jahrhunderten so viele
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tüchtige Bürger, aber noch nie ein Talent oder Genie hervorgebracht
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hatte.
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Ein feiner und modern geschulter Beobachter hätte, sich an die
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schwächliche Mutter und an das stattliche Alter der Familie erinnernd,
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von Hypertrophie der Intelligenz als Symptom einer einsetzenden
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Degeneration sprechen können. Aber die Stadt war so glücklich, keine
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Leute von dieser Sorte zu beherbergen, und nur die Jüngeren und
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Schlaueren unter den Beamten und Schulmeistern hatten von der Existenz
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des »modernen Menschen« durch Zeitschriftenartikel eine unsichere Kunde.
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Man konnte dort noch leben und gebildet sein, ohne die Reden
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Zarathustras zu kennen; die Ehen waren solid und oft glücklich und das
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ganze Leben hatte einen unheilbar altmodischen Habitus. Die
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warmgesessenen, wohlhabenden Bürger, von denen in den letzten zwanzig
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Jahren manche aus Handwerkern zu Fabrikanten geworden waren, nahmen zwar
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vor den Beamten die Hüte ab und suchten ihren Umgang, unter sich nannten
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sie sie aber Hungerleider und Schreibersknechte. Seltsamerweise kannten
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sie trotzdem keinen höheren Ehrgeiz als den, ihre Söhne womöglich
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studieren und Beamte werden zu lassen. Leider blieb dies so gut wie
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immer ein schöner, unerfüllter Traum, denn der Nachwuchs kam zumeist
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schon durch die Lateinschule nur mit großem Ächzen und wiederholtem
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Sitzenbleiben hindurch.
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Über Hans Giebenraths Begabung gab es keinen Zweifel. Die Lehrer, der
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Rektor, die Nachbarn, der Stadtpfarrer, die Mitschüler und jedermann gab
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zu, der Bub sei ein feiner Kopf und überhaupt etwas Besonderes. Damit
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war seine Zukunft bestimmt und festgelegt. Denn in schwäbischen Landen
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gibt es für begabte Knaben, ihre Eltern müßten denn reich sein, nur
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einen einzigen schmalen Pfad: durchs Landexamen ins Seminar, von da ins
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Tübinger Stift und von dort entweder auf die Kanzel oder aufs Katheder.
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Jahr für Jahr betreten drei bis vier Dutzend Landessöhne diesen stillen,
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sicheren Weg, magere, überarbeitete Neukonfirmierte, durchlaufen auf
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Staatskosten die verschiedenen Gebiete des humanistischen Wissens und
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treten acht oder neun Jahre später den zweiten, meist längeren Teil
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ihres Lebensweges an, auf welchem sie dem Staate die erlittenen
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Wohltaten heimbezahlen sollen.
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In wenigen Wochen sollte das »Landexamen« wieder stattfinden. So heißt
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die jährliche Hekatombe, bei welcher »der Staat« die geistige Blüte des
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Landes auswählt und während deren Dauer aus Städtchen und Dörfern
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Seufzer, Gebete und Wünsche zahlreicher Familien sich nach der
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Hauptstadt richten, in deren Schoß die Prüfung vor sich geht.
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Hans Giebenrath war der einzige Kandidat, den das Städtlein zum
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peinlichen Wettbewerb zu entsenden dachte. Die Ehre war groß, doch hatte
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er sie keineswegs umsonst. An die Schulstunden, die täglich bis vier Uhr
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dauerten, schloß sich die griechische Extralektion beim Rektor an, um
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sechs war dann der Herr Stadtpfarrer so freundlich, eine
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Repetitionsstunde in Latein und Religion zu geben, und zweimal in der
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Woche fand nach dem Abendessen noch eine einstündige Unterweisung beim
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Mathematiklehrer statt. Im Griechischen wurde nächst den unregelmäßigen
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Zeitwörtern hauptsächlich auf die in den Partikeln auszudrückende
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Mannigfaltigkeit der Satzverknüpfungen Wert gelegt, im Latein galt es
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klar und knapp im Stil zu sein und namentlich die vielen prosodischen
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Feinheiten zu kennen, in der Mathematik wurde der Hauptnachdruck auf
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komplizierte Schlußrechnungen gelegt. Dieselben seien, wie der Lehrer
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häufig betonte, zwar scheinbar ohne Wert fürs spätere Studium und Leben,
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jedoch eben nur scheinbar. In Wirklichkeit waren sie sehr wichtig, ja
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wichtiger als manche Hauptfächer, denn sie bilden die logischen
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Fähigkeiten aus und sind die Grundlage alles klaren, nüchternen und
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erfolgreichen Denkens.
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Damit jedoch keine geistige Überlastung eintrete und damit nicht etwa
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über den Verstandesübungen das Gemüt vergessen werde und verdorre,
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durfte Hans jeden Morgen, eine Stunde vor Schulbeginn, den
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Konfirmandenunterricht besuchen, wo aus dem Brenzischen Katechismus und
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aus dem anregenden Auswendiglernen und Aufsagen der Fragen und Antworten
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ein erfrischender Hauch religiösen Lebens in die jugendlichen Seelen
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drang. Leider verkümmerte er sich diese erquickenden Stunden selbst und
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beraubte sich ihres Segens. Er legte nämlich heimlicherweise
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beschriebene Zettel in seinen Katechismus, griechische und lateinische
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Vokabeln oder Übungsstücke, und beschäftigte sich fast die ganze Stunde
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mit diesen weltlichen Wissenschaften. Doch war immerhin sein Gewissen
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nicht so abgestumpft, daß er dabei nicht fortwährend eine peinliche
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Unsicherheit und ein leises Angstgefühl empfunden hätte. Wenn der Dekan
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in seine Nähe trat oder gar seinen Namen rief, zuckte er jedesmal scheu
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zusammen, und wenn er eine Antwort geben mußte, hatte er Schweiß auf der
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Stirn und Herzklopfen. Die Antworten aber waren tadellos richtig, auch
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in der Aussprache, und darauf gab der Dekan sehr viel.
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Die Aufgaben, zum Schreiben oder zum Auswendiglernen, zum Repetieren und
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Präparieren, die sich tagsüber von Lektion zu Lektion ansammelten,
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konnten dann am spätern Abend bei traulichem Lampenlicht zu Hause
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erledigt werden. Dieses stille, vom häuslichen Frieden segensreich
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umhegte Arbeiten, dem der Klassenlehrer eine besonders tiefe und
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fördernde Wirkung zusprach, dauerte Dienstags und Samstags gewöhnlich
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nur etwa bis zehn Uhr, sonst aber bis elf, bis zwölf und gelegentlich
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noch darüber. Der Vater grollte ein wenig über den maßlosen Ölverbrauch,
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sah dies Studieren aber doch mit wohlgefälligem Stolze an. Für etwaige
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Mußestunden und für die Sonntage, die ja den siebenten Teil unseres
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Lebens ausmachen, war die Lektüre einiger in der Schule nicht gelesener
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Autoren und reichhaltiges Repetieren der Grammatik dringend empfohlen.
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»Natürlich mit Maß, mit Maß! Ein, zweimal in der Woche spazierengehen
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ist notwendig und tut Wunder. Bei schönem Wetter kann man ja auch ein
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Buch mit ins Freie nehmen -- du wirst sehen, wie leicht und fröhlich es
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sich in der frischen Luft draußen lernen läßt. Überhaupt Kopf hoch!«
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Hans hielt also nach Möglichkeit den Kopf hoch, benützte von nun an auch
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die Spaziergänge zum Lernen und lief still und verscheucht mit
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übernächtigem Gesicht und blaurandigen, müden Augen herum.
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»Was halten Sie von Giebenrath; er wird doch durchkommen?« sagte der
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Klassenlehrer einmal zum Rektor.
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»Er wird, er wird«, jauchzte der Rektor. »Das ist einer von den ganz
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Gescheiten; sehen Sie ihn nur an, er sieht ja direkt vergeistigt aus.«
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In den letzten acht Tagen war die Vergeistigung eklatant geworden. In
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dem hübschen, zarten Knabengesicht brannten tiefliegende, unruhige Augen
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mit trüber Glut, auf der schönen Stirn zuckten feine, Geist verratende
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Falten, und die ohnehin dünnen und hageren Arme und Hände hingen mit
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einer müden Grazie herab, die an Botticelli erinnerte.
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Es war nun soweit. Morgen früh sollte er mit seinem Vater nach Stuttgart
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fahren und dort im Landexamen zeigen, ob er würdig sei, durch die
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schmale Klosterpforte des Seminars einzugehen. Eben hatte er seinen
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Abschiedsbesuch beim Rektor gemacht.
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»Heute abend«, sagte zum Schluß der gefürchtete Herrscher mit
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ungewöhnlicher Milde, »darfst du nichts mehr arbeiten. Versprich es mir.
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Du mußt morgen absolut frisch in Stuttgart antreten. Geh noch eine
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Stunde spazieren und nachher beizeiten zu Bett. Junge Leute müssen ihren
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Schlaf haben.«
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Hans war erstaunt, statt der gefürchteten Menge von Ratschlägen so viel
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Wohlwollen zu erleben, und trat aufatmend aus dem Schulhaus. Die großen
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Kirchberglinden glänzten matt im heißen Sonnenlicht des Spätnachmittags,
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auf dem Marktplatz plätscherten und blinkten beide großen Brunnen, über
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die unregelmäßige Linie der Dächerflucht schauten die nahen,
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blauschwarzen Tannenberge herein. Dem Buben war so, als hätte er das
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alles schon eine lange Zeit nicht mehr gesehen, und es kam ihm alles
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ungewöhnlich schön und verlockend vor. Zwar hatte er Kopfweh, aber heute
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brauchte er ja nichts mehr zu lernen.
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Langsam schlenderte er über den Marktplatz, am alten Rathaus vorüber,
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durch die Marktgasse und an der Messerschmiede vorbei zur alten Brücke.
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Dort bummelte er eine Weile auf und ab und setzte sich schließlich auf
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die breite Brüstung. Wochen- und monatelang war er Tag für Tag seine
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viermal hier vorbeigegangen und hatte keinen Blick für die kleine
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gotische Brückenkapelle gehabt, noch für den Fluß, noch für die
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Stellfalle, Wehr und Mühle, nicht einmal für die Badwiese und für die
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weidenbestandenen Ufer, an denen ein Gerberplatz neben dem anderen lag,
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wo der Fluß tief, grün und still wie ein See stand und wo die gebogenen,
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spitzen Weidenäste bis ins Wasser hinabhingen.
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Nun fiel ihm wieder ein, wieviel halbe und ganze Tage er hier verbracht,
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wie oft er hier geschwommen und getaucht und gerudert und geangelt
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hatte. Ach, das Angeln! Das hatte er nun auch fast verlernt und
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vergessen, und im vergangenen Jahr hatte er so bitterlich geheult, als
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es ihm verboten worden war, der Examensarbeit wegen. Das Angeln! Das war
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doch das Schönste in all den langen Schuljahren gewesen. Das Stehen im
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dünnen Weidenschatten, das nahe Rauschen der Mühlenwehre, das tiefe,
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ruhige Wasser! Und das Lichterspiel auf dem Fluß, das sanfte Schwanken
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der langen Angelrute, die Aufregung beim Anbeißen und Ziehen und die
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eigentümliche Freude, wenn man einen kühlen, feisten, schwänzelnden
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Fisch in der Hand hielt!
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Er hatte doch manchen saftigen Karpfen herausgezogen, und Weißfische und
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Barben, auch von den delikaten Schleien und von den kleinen, seltenen,
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schönfarbigen Ellritzen. Lange blickte er über das Wasser, und beim
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Anblick des ganzen grünen Flußwinkels wurde er nachdenklich und traurig
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und fühlte die schönen, freien, verwilderten Knabenfreuden so weit
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dahinten liegen. Mechanisch zog er ein Stück Brot aus der Tasche, formte
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große und kleine Kugeln daraus, warf sie ins Wasser und beobachtete, wie
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sie sanken und von den Fischen erschnappt wurden. Zuerst kamen die
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winzigen Goldfallen und Blecken, fraßen die kleineren Stücke begierig
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auf und stießen die großen mit hungrigen Schnauzen im Zickzack vor sich
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her. Dann näherte sich langsam und vorsichtig ein größerer Weißfisch,
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dessen dunkler, breiter Rücken sich schwach vom Grunde abhob, umsegelte
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die Brotkugel bedächtig und ließ sie dann im plötzlich geöffneten,
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runden Maul verschwinden. Vom trägfließenden Wasser kam ein feuchtwarmer
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Duft herauf, ein paar helle Wolken spiegelten sich undeutlich in der
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grünen Fläche, in der Mühle ächzte die Kreissäge und beide Wehre
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rauschten kühl und tieftönig ineinander. Der Knabe dachte an den
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Konfirmationssonntag, der kürzlich gewesen war und an dem er sich dabei
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ertappt hatte, daß er mitten in der Feierlichkeit und Rührung innerlich
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ein griechisches Verbum memorierte. Auch sonst war es ihm in letzter
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Zeit oft so gegangen, daß er seine Gedanken untereinander brachte und
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auch in der Schule statt an die vor ihm liegende Arbeit stets an die
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vorhergegangene oder an eine spätere dachte. Das Examen konnte ja gut
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werden!
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Zerstreut erhob er sich von seinem Sitz und war unschlüssig, wohin er
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gehen solle. Er erschrak heftig, als eine kräftige Hand ihn an der
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Schulter faßte und eine freundliche Männerstimme ihn anredete.
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»Grüß Gott, Hans, gehst ein Stück mit mir?«
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Das war der Schuhmachermeister Flaig, bei dem er früher zuweilen eine
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Abendstunde verbracht hatte, jetzt aber schon lang keine mehr. Hans ging
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mit und hörte dem frommen Pietisten ohne rechte Aufmerksamkeit zu. Flaig
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sprach vom Examen, wünschte dem Jungen Glück und sprach ihm Mut zu, der
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Endzweck seiner Rede war aber, darauf hinzuweisen, daß so ein Examen
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doch nur etwas Äußerliches und Zufälliges sei. Durchzufallen sei keine
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Schande, das könne dem Besten passieren, und falls es ihm so gehen
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sollte, möge er bedenken, daß Gott mit jeder Seele seine besondern
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Absichten habe und sie eigene Wege führe.
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Hans hatte dem Manne gegenüber kein ganz sauberes Gewissen. Er fühlte
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eine Hochachtung für ihn und sein sicheres, imponierendes Wesen, dennoch
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hatte er über die Stundenbrüder so viele Witze gehört und darüber
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mitgelacht, oft gegen sein besseres Wissen; außerdem hatte er sich
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seiner Feigheit zu schämen, denn seit einer gewissen Zeit mied er den
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Schuster fast ängstlich, seiner scharfen Fragen wegen. Seit er der Stolz
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seiner Lehrer und selber ein wenig hochmütig geworden war, hatte der
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Meister Flaig ihn oft so komisch angesehen und zu demütigen versucht.
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Darüber war dem wohlmeinenden Führer die Seele des Knaben allmählich
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entglitten, denn Hans stand in der Blüte des Knabentrotzes und hatte
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feine Fühler für jede unliebsame Berührung seines Selbstbewußtseins. Nun
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schritt er neben dem Redenden hin und wußte nicht, wie besorgt und gütig
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ihn dieser von oben beschaute.
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In der Kronengasse begegneten sie dem Stadtpfarrer. Der Schuster grüßte
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gemessen und kühl und hatte es plötzlich eilig, denn der Stadtpfarrer
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war ein Neumodischer und stand im Ruf, er glaube nicht einmal an die
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Auferstehung. Dieser nahm den Knaben mit sich.
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»Wie geht's?« fragte er. »Du wirst froh sein, daß es jetzt so weit ist.«
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»Ja, 's ist mir schon recht.«
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»Nun, halte dich gut! Du weißt, daß wir alle Hoffnungen auf dich setzen.
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Im Latein erwarte ich eine besondere Leistung von dir.«
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»Wenn ich aber durchfalle«, meinte Hans schüchtern.
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»Durchfallen?!« Der Geistliche blieb ganz erschrocken stehen.
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»Durchfallen ist einfach unmöglich. Einfach unmöglich. Sind das
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Gedanken!«
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»Ich meine nur, es könnte ja doch sein ...«
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»Es kann nicht, Hans, es kann nicht; darüber sei ganz beruhigt. Und nun
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grüß mir deinen Papa und sei mutig!«
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Hans sah ihm nach; dann schaute er sich nach dem Schuhmacher um. Was
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hatte der doch gesagt? Aufs Latein käme es nicht so sehr an, wenn man
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nur das Herz auf'm rechten Fleck habe und Gott fürchte. Der hatte gut
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reden. Und nun noch der Stadtpfarrer. Vor dem konnte er sich überhaupt
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nimmer sehen lassen, wenn er durchfiel.
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Bedrückt schlich er nach Hause und in den kleinen, abschüssigen Garten.
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Hier stand ein morsches, längst nicht mehr benutztes Gartenhäuschen;
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darin hatte er seinerzeit einen Bretterstall gezimmert und drei Jahre
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lang Kaninchen drin gehabt. Im vorigen Herbst waren sie ihm weggenommen
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worden, des Examens wegen. Er hatte keine Zeit mehr für Zerstreuungen
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gehabt.
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Auch im Garten war er schon lang nimmer gewesen. Der leere Verschlag sah
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baufällig aus, die Tropfsteingruppe in der Mauerecke war
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zusammengefallen, das kleine, hölzerne Wasserrädchen lag verbogen und
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zerbrochen neben der Wasserleitung. Er dachte an die Zeit, da er das
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alles gebaut und geschnitzt und seine Freude daran gehabt hatte. Es war
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auch schon zwei Jahre her -- eine ganze Ewigkeit. Er hob das Rädchen
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auf, bog daran herum, zerbrach es vollends und warf es über den Zaun.
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Fort mit dem Zeug, das war ja alles schon lang aus und vorbei. Dabei
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fiel ihm sein Schulfreund August ein. Der hatte ihm geholfen das
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Wasserrad zu bauen und den Hasenstall zu flicken. Nachmittage lang
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hatten sie hier gespielt, mit der Schleuder geschossen, den Katzen
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nachgestellt, Zelte gebaut und zum Vesper rohe gelbe Rüben gegessen.
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Dann war aber die Streberei losgegangen und August war vor einem Jahr
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aus der Schule getreten und Mechanikerlehrling geworden. Er hatte sich
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seither nur noch zweimal gezeigt. Freilich, auch der hatte jetzt keine
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Zeit mehr.
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Wolkenschatten liefen eilig übers Tal, die Sonne stand schon nahe am
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Bergrand. Einen Augenblick hatte der Knabe das Gefühl, er müsse sich
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hinwerfen und heulen. Statt dessen holte er aus der Remise das Handbeil,
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schwang es mit den schmächtigen Ärmlein durch die Luft und hieb den
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Kaninchenstall in hundert Stücke. Die Latten flogen auseinander, die
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Nägel bogen sich knirschend, ein wenig verfaultes Hasenfutter, noch vom
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vorjährigen Sommer, kam zum Vorschein. Er hieb auf das alles los, als
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könnte er damit sein Heimweh nach den Hasen und nach August und nach all
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den alten Kindereien totschlagen.
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»Na na na na na, was sind denn das für Sachen?« rief der Vater vom
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Fenster her. »Was machst du da?«
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»Brennholz.«
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Weiter gab er keine Antwort, sondern warf das Beil weg, lief durch den
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Hof auf die Gasse und dann am Ufer flußaufwärts. Draußen in der Nähe der
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Brauerei standen zwei Flöße angebunden. Mit solchen war er früher oft
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stundenweit flußab gefahren, an warmen Sommernachmittagen, vom Fahren
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auf dem zwischen den Stämmen klatschenden Wasser zugleich erregt und
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eingeschläfert. Er sprang auf die losen, schwimmenden Stämme hinüber,
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legte sich auf einen Weidenhaufen und versuchte sich vorzustellen, das
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Floß sei unterwegs, fahre bald rasch, bald zögernd an Wiesen, Äckern,
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Dörfern und kühlen Waldrändern vorüber, unter Brücken und aufgezogenen
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Stellfallen durch, und er liege darauf und alles wäre wieder wie sonst,
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da er noch am Kapfberg Hasenfutter holte, in den Gerbergärten am Ufer
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angelte und noch kein Kopfweh und keine Sorge hatte.
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Müd und verdrossen kam er zum Nachtessen heim. Der Vater war wegen der
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bevorstehenden Examensreise nach Stuttgart heillos aufgeregt und fragte
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ein dutzendmal, ob die Bücher eingepackt seien, ob er den schwarzen
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Anzug bereit gelegt habe, ob er nicht unterwegs noch in der Grammatik
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lesen wolle, ob er sich wohl fühle. Hans gab kurze, bissige Antworten,
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aß wenig und sagte bald Gutnacht.
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»Gut Nacht, Hans. Schlaf nur gut! Also um sechs Uhr weck ich dich
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morgen. Hast du auch den Lexikon nicht vergessen?« »Nein, ich hab >den<
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Lexikon nicht vergessen. Gut Nacht!«
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Auf seinem Stüblein saß er noch lang ohne Licht wach. Das war bis jetzt
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der einzige Segen, den ihm die Examengeschichte gebracht hatte -- das
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eigene kleine Zimmer, in dem er Herr war und nicht gestört wurde. Hier
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hatte er im Kampf mit Ermüdung, Schlaf und Kopfweh lange Abendstunden
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über Cäsar, Xenophon, Grammatiken, Wörterbüchern und mathematischen
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Aufgaben verbrütet, zäh, trotzig und ehrgeizig, oft auch der
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Verzweiflung nah. Hier hatte er aber auch die paar Stunden gehabt, die
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ihm mehr wert waren als alle verlorenen Knabenlustbarkeiten, jene paar
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traumhaft seltsamen Stunden voll Stolz und Rausch und Siegesmut, in
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denen er sich über Schule, Examen und alles hinweg in einen Kreis
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höherer Wesen hinübergeträumt und gesehnt hatte. Da hatte ihn eine
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freche, selige Ahnung ergriffen, daß er wirklich etwas anderes und
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Besseres sei als die dickbackigen, gutmütigen Kameraden und auf sie
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vielleicht einmal aus entrückter Höhe überlegen herabsehen dürfe. Auch
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jetzt atmete er auf, als sei in diesem Stüblein eine freiere und kühlere
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Luft, setzte sich aufs Bett und verdämmerte ein paar Stunden in Träumen,
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Wünschen und Ahnungen. Langsam fielen die hellen Lider ihm über die
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großen, überarbeiteten Augen, öffneten sich nochmals, blinzelten und
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fielen wieder herab, der blasse Knabenkopf sank auf die hagere Schulter,
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die dünnen Arme streckten sich müde aus. Er war in den Kleidern
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eingeschlafen, und die leise, mütterliche Hand des Schlummers ebnete die
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Wogen in seinem unruhigen Kinderherzen und löschte die kleinen Falten
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auf seiner hübschen Stirn.
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* * * * *
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Es war unerhört. Der Herr Rektor hatte sich, trotz der frühen Stunde,
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selber auf den Bahnhof bemüht. Herr Giebenrath stak im schwarzen Gehrock
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und konnte vor Aufregung, Freude und Stolz gar nicht stillstehen; er
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trippelte nervös um den Rektor und um Hans herum, ließ sich vom
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Stationsvorstand und von allen Bahnangestellten gute Reise und viel
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Glück zu seines Sohnes Examen wünschen und hatte seinen kleinen, steifen
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Koffer bald in der linken, bald in der rechten Hand. Den Regenschirm
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hielt er einmal unter den Arm, dann wieder zwischen die Knie geklemmt,
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ließ ihn einigemal fallen und stellte dann jedesmal den Koffer ab, um
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ihn wieder aufheben zu können. Man hätte meinen sollen, er reise nach
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Amerika und nicht mit Retourbillett nach Stuttgart. Der Sohn schien ganz
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ruhig, doch würgte ihn die heimliche Angst in der Kehle.
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Der Zug kam an und hielt, man stieg ein, der Rektor winkte mit der Hand,
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der Vater zündete sich eine Zigarre an, unten verschwand im Tal die
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Stadt und der Fluß. Die Reise war für beide eine Qual.
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In Stuttgart lebte der Vater plötzlich auf und begann fröhlich,
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leutselig und weltmännisch zu werden; ihn beseelte die Wonne des
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Kleinstädters, der für ein paar Tage in die Residenz gekommen ist. Hans
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aber wurde stiller und ängstlicher, eine tiefe Beklemmung ergriff ihn
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beim Anblick der Stadt; die fremden Gesichter, die protzig hohen,
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aufgedonnerten Häuser, die langen, ermüdenden Wege, die Pferdebahnen und
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der Straßenlärm verschüchterten ihn und taten ihm weh. Man logierte bei
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einer Tante und dort drückten die fremden Räume, die Freundlichkeit und
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Gesprächigkeit der Tante, das lange zwecklose Herumsitzen und das ewige
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aufmunternde Zureden des Vaters den Knaben vollends ganz zu Boden. Fremd
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und verloren hockte er im Zimmer herum, und wenn er die ungewohnte
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Umgebung, die Tante und ihre städtische Toilette, die großmustrige
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Tapete, die Stutzuhr, die Bilder an der Wand oder durchs Fenster die
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geräuschvolle Straße ansah, kam er sich ganz verraten vor und es schien
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ihm dann, er sei schon eine Ewigkeit von Hause fort und habe alles
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mühselig Gelernte einstweilen völlig vergessen.
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Nachmittags hatte er nochmals die griechischen Partikeln durchnehmen
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wollen, aber die Tante schlug einen Spaziergang vor. Einen Augenblick
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tauchte vor Hansens innerem Blick etwas wie Wiesengrün und Waldgebrause
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auf und er sagte freudig zu. Bald genug sah er aber, daß auch das
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Spazierengehen hier in der großen Stadt eine andere Art von Vergnügen
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sei als daheim.
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Er ging allein mit der Tante, da der Papa in der Stadt Besuche machte.
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Schon auf der Treppe ging das Elend los. Man begegnete im ersten
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Stockwerk einer dicken, hoffärtig aussehenden Dame, vor welcher die
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Tante einen Knix machte und die sofort mit großer Eloquenz zu plaudern
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begann. Der Halt dauerte mehr als eine Viertelstunde. Hans stand
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daneben, an das Treppengeländer gepreßt, wurde vom Hündlein der Dame
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berochen und angegrollt und begriff undeutlich, daß man auch über ihn
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spreche, denn die fremde Dicke blickte ihn wiederholt durch den Zwicker
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von oben bis unten an. Kaum war man dann auf der Straße, so trat die
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Tante in einen Laden und es dauerte eine gute Weile, bis sie wiederkam.
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Inzwischen stand Hans schüchtern auf der Straße, wurde von
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Vorübergehenden beiseite geschoben und von Gassenbuben verhöhnt. Als die
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Tante aus dem Laden zurückkam, überreichte sie ihm eine Tafel Schokolade
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und er bedankte sich höflich, obwohl er Schokolade nicht mochte. An der
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nächsten Ecke bestieg man die Pferdebahn und nun ging es unter
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beständigem Geklingel im überfüllten Wagen durch Straßen und wieder
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Straßen, bis man endlich eine große Allee und Gartenanlage erreichte.
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Dort lief ein Springbrunnen, blühten umzäunte Zierbeete und schwammen
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Goldfische in einem kleinen künstlichen Weiher. Man wandelte auf und ab,
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hin und her und im Kreise, zwischen einem Schwarm von andern
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Spaziergängern, und sah eine Menge von Gesichtern, eleganten und anderen
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Kleidern, Fahrrädern, Krankenfahrstühlen und Kinderwagen, hörte ein
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Gewirre von Stimmen und atmete eine warme, staubige Luft. Zum Schluß
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nahm man auf einer Bank neben anderen Leuten Platz. Die Tante hatte fast
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die ganze Zeit drauflosgesprochen, nun seufzte sie, lächelte den Knaben
|
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liebevoll an und forderte ihn auf, jetzt seine Schokolade zu essen. Er
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wollte nicht.
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»Lieber Gott, du wirst dich doch nicht genieren? Nein, iß nur, iß!«
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Da zog er sein Täfelchen heraus, zerrte eine Weile am Silberpapier und
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||
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biß schließlich ein ganz kleines Stückchen ab. Schokolade mochte er nun
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einmal ums Leben nicht, aber er wagte es der Tante nicht zu sagen.
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Während er noch an dem Bissen sog und würgte, hatte die Tante einen
|
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Bekannten unter der Menge entdeckt und stürmte davon.
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|
»Bleib nur hier sitzen, ich bin gleich wieder da.«
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Hans benützte aufatmend die Gelegenheit und schleuderte seine Schokolade
|
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weit weg in den Rasen. Dann schlenkerte er die Beine im Takt, starrte
|
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|
die vielen Leute an und kam sich unglücklich vor. Am Ende begann er
|
||
|
wieder einmal die Unregelmäßigen herzusagen, aber zu seinem tödlichen
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||
|
Schrecken wußte er fast nichts mehr. Alles rein vergessen! Und morgen
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||
|
war Landexamen.
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Die Tante kam zurück und hatte inzwischen in Erfahrung gebracht, es gebe
|
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dies Jahr einhundertundachtzehn Kandidaten zum Landexamen. Bestehen
|
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konnten aber nur sechsunddreißig. Da fiel dem Knaben das Herz vollends
|
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in die Hosen und er sprach auf dem ganzen Heimweg kein Wort mehr. Zu
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|
Haus bekam er Kopfweh, wollte wieder nichts essen und war so desperat,
|
||
|
daß der Vater ihn tüchtig ausschalt und daß ihn sogar die Tante
|
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unausstehlich fand. In der Nacht schlief er schwer und tief,
|
||
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von scheußlichen Traumszenen verfolgt. Er sah sich mit den
|
||
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einhundertundsiebzehn Kameraden im Examen sitzen, der Prüfende sah bald
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dem Stadtpfarrer zu Hause, bald der Tante ähnlich und häufte vor ihm
|
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Berge von Schokolade auf, die er essen sollte. Und während er unter
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Tränen aß, sah er die übrigen einen um den andern aufstehen und durch
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eine kleine Türe verschwinden. Alle hatten ihren Berg gegessen, seiner
|
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aber wurde unter seinen Augen größer und größer, quoll über Tisch und
|
||
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Bank und schien ihn ersticken zu wollen.
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Am folgenden Morgen, während Hans Kaffee trank und die Uhr nicht aus den
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||
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Augen ließ, um ja nicht zu spät in die Prüfung zu kommen, wurde seiner
|
||
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im Heimatstädtchen von vielen gedacht. Zuerst vom Schuhmacher Flaig; der
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sprach vor der Morgensuppe sein Gebet, die Familie samt den Gesellen und
|
||
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beiden Lehrlingen stand im Kreis um den Tisch, und seinem gewöhnlichen
|
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Frühgebet fügte der Meister heute die Worte bei: »O Herr, halte deine
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|
Hand auch über den Schüler Hans Giebenrath, der heute ins Examen tritt,
|
||
|
segne und stärke ihn und laß ihn einmal einen rechten und wackeren
|
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Verkündiger deines göttlichen Namens werden!«
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Der Stadtpfarrer betete zwar nicht für ihn, sagte aber beim Frühstück zu
|
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|
seiner Frau: »Jetzt geht der Giebenrathle ins Examen. Aus dem wird noch
|
||
|
was Besonderes; man wird schon auf ihn aufmerksam werden und dann
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schadet es nichts, daß ich ihm mit den Lateinstunden beigesprungen bin.«
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Der Klassenlehrer, ehe er die Stunde begann, sagte zu seinen Schülern:
|
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»So, jetzt fängt in Stuttgart das Landexamen an und wir wollen dem
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Giebenrath alles Gute wünschen. Nötig hat er's zwar nicht, denn von
|
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solchen Faulpelzen, wie ihr seid, steckt er seine zehn in den Sack.« Und
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|
auch die Schüler dachten nun fast alle an den Abwesenden, namentlich
|
||
|
aber die vielen, die auf sein Durchkommen oder Durchfallen untereinander
|
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|
Wetten abgeschlossen hatten.
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Und da denn herzliche Fürbitte und innige Teilnahme mit Leichtigkeit
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über große Strecken hinweg in die Ferne wirken, bekam auch Hans es zu
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|
spüren, daß man zu Hause an ihn dachte. Zwar ging er mit Herzklopfen,
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||
|
von seinem Vater begleitet, in den Prüfungssaal, folgte scheu und
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erschrocken den Anweisungen des Famulus und schaute sich in dem großen,
|
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|
von blassen Knaben erfüllten Raume um wie ein Verbrecher in der
|
||
|
Folterkammer. Als aber der Professor gekommen war, Ruhe gebot und den
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Text zur lateinischen Stilübung diktierte, fand Hans aufatmend dieselbe
|
||
|
lächerlich leicht. Rasch und fast fröhlich machte er sein Konzept,
|
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schrieb es dann bedächtig und sauber ins reine und war einer von den
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ersten, die ihre Arbeit ablieferten. Zwar verfehlte er darauf den Weg
|
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zum Haus der Tante und irrte zwei Stunden in den heißen Stadtstraßen
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umher, doch störte ihm das sein wiedergefundenes Gleichgewicht nicht
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erheblich; er war sogar froh, der Tante und dem Vater noch für eine
|
||
|
Weile zu entrinnen und kam sich, durch die fremden, lärmigen
|
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Residenzstraßen wandernd, wie ein waghalsiger Abenteurer vor. Als er
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sich endlich mit Mühe durchgefragt und heimgefunden hatte, wurde er mit
|
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Fragen bestürmt.
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»Wie ist's gegangen? Wie ist's gewesen? Hast du dein Sach gekonnt?«
|
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»Leicht ist's gewesen,« sagte er stolz, »das hätt' ich in der fünften
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Klasse schon übersetzen können.«
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Und er aß mit redlichem Hunger.
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Den Nachmittag hatte er frei. Der Papa schleppte ihn bei einigen
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Verwandten und Freunden herum. Bei einem derselben fanden sie einen
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schwarz gekleideten, schüchternen Buben, der von Göppingen hergekommen
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war, ebenfalls um das Landexamen zu machen. Die Knaben blieben sich
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selbst überlassen und sahen einander scheu und neugierig an.
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»Wie ist dir die lateinische Arbeit vorgekommen? Leicht, nicht wahr?«
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fragte Hans.
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»Riesig leicht. Aber das ist gerade der Kasus, in leichten Arbeiten
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macht man die meisten Schnitzer. Man paßt nicht auf. Und verborgene
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Fallen werden schon auch drin gewesen sein.«
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»Meinst du?«
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»Natürlich. So dumm sind die Herren nicht.«
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Hans erschrak ein wenig und wurde nachdenklich. Dann fragte er zaghaft:
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»Hast du den Text noch da?«
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|
Der andere brachte sein Heft und nun nahmen sie zusammen die ganze
|
||
|
Arbeit durch, Wort für Wort. Der Göppinger schien ein raffinierter
|
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|
Lateiner zu sein, wenigstens brauchte er zweimal grammatikalische
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|
Bezeichnungen, die Hans überhaupt noch nie gehört hatte.
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»Und was kommt wohl morgen dran?«
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»Griechisch und Aufsatz.«
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Dann erkundigte sich der Göppinger, wieviel Examinanden aus Hansens
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Schule gekommen seien.
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»Keiner,« sagte Hans, »bloß ich.«
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||
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»Au, wir Göppinger sind zu zwölft! Drei ganz Gescheite sind dabei, von
|
||
|
denen erwartet man, daß sie unter die Ersten kommen. Voriges Jahr war
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der Primus auch ein Göppinger. -- Gehst du aufs Gymnasium, falls du
|
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durchfällst?«
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||
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|
Davon war noch gar nie die Rede gewesen.
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||
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»Ich weiß nicht ... Nein, ich glaube nicht.«
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»So? Ich studiere auf alle Fälle, auch wenn ich jetzt durchfalle. Dann
|
||
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läßt mich meine Mutter nach Ulm.«
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||
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Das imponierte Hans gewaltig. Auch die zwölf Göppinger mit den drei ganz
|
||
|
Gescheiten machten ihm Angst. Da konnte er sich ja nimmer sehen lassen.
|
||
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||
|
Zu Hause setzte er sich hin und nahm die Verba auf ^mi^ noch einmal
|
||
|
durch. Aufs Lateinische hatte er gar keine Angst gehabt, da fühlte er
|
||
|
sich sicher. Aber mit dem Griechischen ging es ihm eigentümlich. Er
|
||
|
hatte es gern, er schwärmte fast dafür, aber nur fürs Lesen. Namentlich
|
||
|
Xenophon war so schön und beweglich und frisch geschrieben, alles klang
|
||
|
heiter, hübsch und kräftig und hatte einen flotten, freien Geist, auch
|
||
|
war alles leicht zu verstehen. Aber sobald es an die Grammatik ging,
|
||
|
oder vom Deutschen ins Griechische übersetzt werden mußte, fühlte er
|
||
|
sich in ein Labyrinth von widerstreitenden Regeln und Formen verirrt und
|
||
|
empfand vor der fremden Sprache fast dieselbe angstvolle Scheu wie
|
||
|
seinerzeit in der ersten Lektion, als er noch nicht einmal das
|
||
|
griechische Alphabet lesen konnte.
|
||
|
|
||
|
Am andern Tage kam richtig Griechisch an die Reihe und nachher deutscher
|
||
|
Aufsatz. Die griechische Arbeit war ziemlich lang und gar nicht leicht,
|
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|
das Aufsatzthema war heikel und konnte mißverstanden werden. Von zehn
|
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|
Uhr an wurde es schwül und heiß im Saal. Hans hatte keine gute
|
||
|
Schreibfeder und verdarb zwei Bogen Papier, bis die griechische Arbeit
|
||
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ins reine geschrieben war. Beim Aufsatz kam er in die größte Not durch
|
||
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einen dreisten Nebensitzer, der ihm ein Blatt Papier mit einer Frage
|
||
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zuschob und ihn durch Rippenstöße zum Antworten drängte. Der Verkehr mit
|
||
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den Banknachbarn war aufs allerstrengste verboten und zog unerbittlich
|
||
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den Ausschluß vom Examen nach sich. Zitternd vor Furcht schrieb er auf
|
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den Zettel: »Laß mich in Ruhe« und wandte dem Frager den Rücken. Es war
|
||
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auch so heiß. Sogar der Aufsichtsprofessor, der beharrlich und
|
||
|
gleichmäßig den Saal abschritt und keinen Augenblick ruhte, fuhr sich
|
||
|
mehrmals mit dem Sacktuch übers Gesicht. Hans schwitzte in seinem dicken
|
||
|
Konfirmationsanzug, bekam Kopfweh und gab schließlich seine Bogen ganz
|
||
|
unglücklich ab, mit dem Gefühl, sie stecken voller Fehler und mit dem
|
||
|
Examen sei es nun wohl fertig.
|
||
|
|
||
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Bei Tisch sagte er kein Wort, sondern zuckte auf alle Fragen nur die
|
||
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Achseln und machte ein Gesicht wie ein Delinquent. Die Tante tröstete,
|
||
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aber der Vater regte sich auf und wurde ungemütlich. Nach dem Essen nahm
|
||
|
er den Buben mit ins Nebenzimmer und suchte ihn nochmals auszufragen.
|
||
|
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||
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»Schlecht ist's gegangen«, sagte Hans.
|
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»Warum hast du nicht aufgepaßt? Man kann sich doch auch zusammennehmen,
|
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zum Teufel.«
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||
|
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||
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Hans schwieg und als der Vater anfing zu schimpfen, wurde er rot und
|
||
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sagte: »Du verstehst doch nichts vom Griechischen!«
|
||
|
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||
|
Das schlimmste war, daß er um zwei Uhr ins Mündliche mußte. Davor graute
|
||
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ihm am meisten. Unterwegs auf der glühend heißen Stadtstraße wurde ihm
|
||
|
ganz elend und er konnte vor Leid und Angst und Schwindel kaum mehr aus
|
||
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den Augen sehen.
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||
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Zehn Minuten lang saß er vor drei Herren an einem großen grünen Tisch,
|
||
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übersetzte ein paar lateinische Sätze und gab auf die gestellten Fragen
|
||
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Antwort. Zehn Minuten saß er dann vor drei anderen Herren, übersetzte
|
||
|
Griechisch und wurde wieder allerlei gefragt. Zum Schluß wollte man
|
||
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einen unregelmäßig gebildeten Aorist von ihm wissen, aber er gab keine
|
||
|
Antwort.
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||
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||
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»Sie können gehen, dort, die Türe rechts.«
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||
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Er ging, aber in der Türe fiel ihm nun doch der Aorist noch ein. Er
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blieb stehen.
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»Gehen Sie,« rief man ihm zu, »gehen Sie! Oder sind Sie etwa unwohl?«
|
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»Nein, aber der Aorist ist mir jetzt eingefallen.«
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Er rief ihn ins Zimmer hinein, sah einen der Herren lachen und stürzte
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mit brennendem Kopf davon. Dann versuchte er sich auf die Fragen und auf
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seine Antworten zu besinnen, aber alles ging ihm durcheinander. Er sah
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nur immer wieder die große, grüne Tischfläche, die drei alten, ernsten
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Herren in Gehröcken, das aufgeschlagene Buch und seine zitternd
|
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daraufgelegte Hand. Herrgott, was mochte er für Antworten gegeben haben!
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Als er durch die Straßen schritt, kam es ihm vor, als sei er schon
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wochenlang hier und könne nie mehr wegkommen. Wie etwas sehr weit
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Entferntes, vor langer Zeit einmal Gesehenes erschien ihm das Bild des
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väterlichen Gartens, die tannenblauen Berge, die Angelplätze am Fluß. O,
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wenn er heut noch heimreisen dürfte! Es hatte doch keinen Wert mehr
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dazubleiben, das Examen war jedenfalls verpfuscht.
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Er kaufte sich einen Milchwecken und trieb sich den ganzen geschlagenen
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Nachmittag sträßlings herum, um nur dem Vater nicht Rede stehen zu
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müssen. Als er endlich heimkam, war man in Sorge um ihn gewesen, und da
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er erschöpft und elend aussah, gab man ihm eine Eiersuppe und schickte
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ihn ins Bett. Morgen kam noch Rechnen und Religion daran, dann konnte er
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wieder abreisen.
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Es ging am folgenden Vormittag ganz gut. Hans empfand es als bittere
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Ironie, daß ihm heute alles gelang, nachdem er gestern in den
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Hauptfächern so Pech gehabt hatte. Einerlei, jetzt nur fort, nach Hause!
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»Das Examen ist aus, jetzt können wir heimreisen«, meldete er bei der
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Tante.
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Sein Vater wollte heute noch dableiben. Man wollte nach Kannstatt fahren
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und dort im Kurgarten Kaffee trinken. Hans bat aber so flehentlich, daß
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der Vater ihm erlaubte, schon heute allein abzureisen. Er wurde auf den
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Zug gebracht, erhielt sein Billett, bekam von der Tante einen Kuß und
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etwas zu essen mit und fuhr nun erschöpft und gedankenlos durch das
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grüne Hügelland heimwärts. Erst als die blauschwarzen Tannenberge
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auftauchten, kam ein Gefühl von Freude und Erlösung über den Knaben. Er
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freute sich auf die alte Magd, auf sein Stübchen, auf den Rektor, auf
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das gewohnte niedere Schulzimmer und auf alles.
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Zum Glück waren keine neugierigen Bekannten auf dem Bahnhof und er
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konnte mit seinem Paketchen unbemerkt nach Hause eilen.
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»Ist's schön gewest in Stuttgart?« fragte die alte Anna.
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»Schön? Ja meinst du denn, ein Examen sei was Schönes? Ich bin bloß
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froh, daß ich wieder da bin. Der Vater kommt erst morgen.«
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Er trank einen Napf frische Milch, holte die vorm Fenster hängende
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Badehose herein und lief davon, aber nicht zu der Wiese, wo alle anderen
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ihren Badeplatz hatten.
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Er ging weit vor die Stadt hinaus zur »Waage«, wo das Wasser tief und
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langsam zwischen hohem Gebüsch dahinfließt. Dort entkleidete er sich,
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steckte die Hand und darauf den Fuß tastend ins kühle Wasser, schauderte
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ein wenig und warf sich dann mit schnellem Sturz in den Fluß. Langsam
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gegen die schwache Strömung schwimmend, fühlte er Schweiß und Angst
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dieser letzten Tage von sich gleiten, und während seinen schmächtigen
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Leib der Fluß kühlend umarmte, nahm seine Seele mit neuer Lust von der
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schönen Heimat Besitz. Er schwamm rascher, ruhte, schwamm wieder und
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fühlte sich von einer wohligen Kühle und Müdigkeit umfangen. Auf dem
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Rücken liegend, ließ er sich wieder flußab treiben, horchte auf das
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feine Summen der in goldigen Kreisen schwärmenden Abendfliegen, sah den
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Späthimmel von kleinen, raschen Schwalben durchschnitten und von der
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schon verschwundenen Sonne hinter den Bergen hervor rosig beglänzt. Als
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er wieder in den Kleidern war und träumerisch nach Hause schlenderte,
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war das Tal schon voll Schatten.
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Er kam am Garten des Händlers Sackmann vorbei, in dem er noch als ganz
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kleiner Bub einmal mit ein paar andern unreife Pflaumen gestohlen hatte.
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Und am Kirchnerschen Zimmerplatz, wo die weißen Tannenbalken herumlagen,
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unter denen er früher immer Regenwürmer zum Angeln gefunden hatte. Er
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kam auch am Häuschen des Inspektors Geßlers vorüber, dessen Tochter Emma
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er vor zwei Jahren auf dem Eis so gern den Hof gemacht hätte. Sie war
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das zierlichste und eleganteste Schulmädel der Stadt gewesen, gleich alt
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wie er, und er hatte damals eine Zeitlang nichts so sehnlich gewünscht,
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als einmal mit ihr zu reden oder ihr die Hand zu geben. Es war nie dazu
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gekommen, er hatte sich zu sehr geniert. Seither war sie in eine Pension
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geschickt worden und er wußte kaum mehr, wie sie aussah. Doch fielen
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diese Bubengeschichten ihm jetzt wieder ein, wie aus weitester Ferne
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her, und sie hatten so starke Farben und einen so seltsam ahnungsvollen
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Duft, wie nichts von allem seither Erlebten. Das waren noch Zeiten
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gewesen, als man abends bei Nascholds Liese im Torweg saß, Kartoffeln
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schälte und Geschichten anhörte, als man Sonntags in aller Frühe mit
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hochgekrempelten Hosen und schlechtem Gewissen beim untern Wehr ins
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Krebsen oder auf den Goldfallenfang gegangen war, um nachher in
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durchnäßten Sonntagskleidern vom Vater Prügel zu bekommen! Es hatte
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damals so viel rätselhafte und seltsame Dinge und Leute gegeben, an die
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er nun schon lange gar nimmer gedacht hatte! Der Schuhmächerle mit dem
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krummen Hals, der Strohmeyer, von dem man sicher wußte, daß er sein Weib
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vergiftet hatte, und der abenteuerliche »Herr Beck«, der mit Stecken und
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Schnappsack das ganze Oberamt durchstrich und zu dem man Herr sagte,
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weil er früher ein reicher Mann gewesen war und vier Pferde samt
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Equipage besessen hatte. Hans wußte von ihnen nichts mehr als die Namen
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und empfand dunkel, daß diese obskure, kleine Gassenwelt ihm verloren
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gegangen war, ohne daß etwas Lebendiges und Erlebenswertes statt dessen
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gekommen wäre.
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Da er für den folgenden Tag noch Urlaub hatte, schlief er morgens in den
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Tag hinein und genoß seine Freiheit. Mittags holte er den Vater ab, der
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noch von allen den Stuttgarter Genüssen selig erfüllt war.
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»Wenn du bestanden hast, darfst du dir etwas wünschen«, sagte er
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gutgelaunt. »Überleg' dir's!«
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»Nein, nein,« seufzte der Knabe, »ich bin sicher durchgefallen.«
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»Dummes Zeug, was wirst du auch! Wünsch' dir lieber was, eh's mich
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reut.«
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»Angeln möcht' ich in den Ferien wieder. Darf ich?«
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»Gut, du darfst, wenn's Examen bestanden ist.«
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Am nächsten Tage, einem Sonntag, ging ein Gewitter und Platzregen nieder
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und Hans saß stundenlang lesend und nachdenkend in seiner Stube. Er
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überdachte seine Stuttgarter Leistungen nochmals genau und kam immer
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wieder zu dem Ergebnis, er habe heillos Pech gehabt und hätte viel
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bessere Arbeiten machen können. Zum Bestehen würde es nun auf keinen
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Fall mehr reichen. Das dumme Kopfweh! Allmählich bedrückte ihn eine
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wachsende Bangigkeit und schließlich trieb eine schwere Sorge ihn zu
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seinem Vater hinüber.
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»Du, Vater!«
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»Was willst?«
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»Etwas fragen. Wegen dem Wünschen. Ich will lieber das Angeln bleiben
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lassen.«
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»So, warum denn jetzt das wieder?«
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»Weil ich ... Ach, ich wollte fragen, ob ich nicht ...«
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»Heraus damit, ist das eine Komödie! Also was?«
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»Ob ich aufs Gymnasium darf, wenn ich durchfalle.«
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Herr Giebenrath war sprachlos.
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»Was? Gymnasium?« brach er dann los. »Du aufs Gymnasium? Wer hat dir das
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in den Kopf gesetzt?«
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»Niemand. Ich meine nur so.«
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Die Todesangst stand ihm im Gesicht zu lesen. Der Vater sah es nicht.
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»Geh, geh«, sagte er unwillig lachend. »Das sind Überspanntheiten. Aufs
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Gymnasium! Du meinst wohl, ich sei Kommerzienrat.«
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Er winkte so heftig ab, daß Hans es aufgab und verzweifelnd hinausging.
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»Ist das ein Bub!« grollte er hinter ihm her. »Nein so was! Jetzt will
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er gar noch aufs Gymnasium! Ja prosit, da brennst du dich.«
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Hans saß eine halbe Stunde lang auf dem Fenstersims, stierte auf den
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frisch geputzten Dielenboden und versuchte sich vorzustellen, wie das
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sein würde, wenn es nun wirklich mit Seminar und Gymnasium und Studieren
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nichts wäre. Man würde ihn als Lehrling in einen Käsladen oder auf ein
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Bureau tun und er würde zeitlebens einer von den gewöhnlichen armseligen
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Leuten sein, die er verachtete und über die er absolut hinaus wollte.
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Sein hübsches, kluges Schülergesicht verzog sich zu einer Grimasse voll
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Zorn und Leid, wütend sprang er auf, spuckte aus, ergriff die daliegende
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lateinische Chrestomathie und warf das Buch mit aller Wucht an die
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nächste Wand. Dann lief er in den Regen hinaus.
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Am Montag früh ging er wieder in die Schule.
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»Wie geht's?« fragte der Rektor und gab ihm die Hand. »Ich dachte, du
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würdest schon gestern zu mir kommen. Wie war's denn im Examen?«
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Hans senkte den Kopf.
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»Na, was denn? Ist's dir schlecht gegangen?«
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»Ich glaube, ja.«
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»Nun, Geduld!« tröstete der alte Herr. »Vermutlich kommt noch heute
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vormittag der Bericht von Stuttgart.«
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Der Vormittag war entsetzlich lang. Es kam kein Bericht und beim
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Mittagessen konnte Hans vor innerlichem Schluchzen kaum schlucken.
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Nachmittags, als er um zwei Uhr ins Schulzimmer kam, war der
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Klassenlehrer schon dort.
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»Hans Giebenrath«, rief er laut.
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Hans trat vor. Der Lehrer gab ihm die Hand.
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»Ich gratuliere dir, Giebenrath. Du hast das Landexamen als Zweiter
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bestanden.«
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Es entstand eine feierliche Stille. Die Tür ging auf und der Rektor trat
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herein.
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»Ich gratuliere. Nun, was sagst du jetzt?«
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Der Bub war ganz gelähmt vor Überraschung und Freude.
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»Na, sagst du gar nichts?«
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»Wenn ich das gewußt hätte,« fuhr es ihm heraus, »dann hätt' ich auch
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vollends Primus werden können.«
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»Nun geh heim«, sagte der Rektor, »und sag' es deinem Papa. In die
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Schule brauchst du jetzt nicht mehr zu kommen, in acht Tagen fangen ja
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ohnehin die Ferien an.«
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Schwindlig kam der Junge auf die Straße hinaus, sah die Linden stehen
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und den Marktplatz in der Sonne daliegen, alles wie sonst, aber alles
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schöner und bedeutungsvoller und freudiger. Er hatte bestanden! Und er
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war Zweiter! Als der erste Freudensturm vorüber war, erfüllte ihn ein
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heißes Dankgefühl. Nun brauchte er dem Stadtpfarrer nicht aus dem Wege
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zu gehen. Nun konnte er studieren! Nun brauchte er weder den Käsladen
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noch das Kontor mehr zu fürchten!
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Und jetzt konnte er auch wieder angeln. Der Vater stand gerade in der
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Haustür, als er heimkam.
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»Was gibt's?« fragte er leichthin.
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»Nicht viel. Man hat mich aus der Schule entlassen.«
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»Was? Warum denn?«
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»Weil ich jetzt Seminarist bin.«
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»Ja, Sackerlot, hast du denn bestanden?«
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Hans nickte.
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»Gut?«
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»Ich bin der Zweite geworden.«
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Das hatte der Alte doch nicht erwartet. Er wußte gar nichts zu sagen,
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klopfte dem Sohn fortwährend auf die Schulter, lachte und schüttelte den
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Kopf. Dann öffnete er den Mund, um etwas zu sagen. Doch sagte er nichts,
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sondern schüttelte nur wieder den Kopf.
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»Donnerwetter!« rief er schließlich. Und noch einmal: »Donnerwetter!«
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Hans stürzte ins Haus hinein, die Treppen hinan und auf den Dachboden,
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riß einen Wandschrank in der leerstehenden Mansarde auf, kramte darin
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herum und zog allerlei Schachteln und Schnurbündel und Korkstücke
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heraus. Es war sein Angelzeug. Nun mußte er vor allem eine schöne Rute
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dazu schneiden. Er ging zum Vater hinunter.
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»Papa, leih mir dein Sackmesser!«
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»Zu was?«
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»Ich muß eine Gerte schneiden, zum Fischen.«
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Der Papa griff in die Tasche.
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»Da,« sagte er strahlend und großartig, »da sind zwei Mark, du kannst
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dir ein eigenes Messer kaufen. Geh aber nicht zum Hanfried, sondern
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drüben in die Messerschmiede.«
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Nun ging's im Galopp. Der Messerschmied fragte nach dem Examen, bekam
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die frohe Botschaft zu hören und gab ein extraschönes Messer her.
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Flußabwärts, unterhalb der Brühelbrücke, standen schöne, schlanke Erlen-
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und Haselstauden, dort schnitt er sich nach langem Auswählen eine
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fehlerlose, zäh federnde Rute und eilte damit nach Hause zurück.
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Mit gerötetem Gesicht und glänzenden Augen ging er an die fröhliche
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Arbeit des Angelrüstens, die ihm fast so lieb wie das Fischen selber
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war. Den ganzen Nachmittag und Abend saß er darüber. Die weißen, braunen
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und grünen Schnüre wurden sortiert, peinlich untersucht, geflickt und
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von manchem alten Knoten und Wirrwarr befreit. Korkstücke und Federkiele
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in allen Formen und Größen wurden probiert oder neu geschnitzt, kleine
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Bleistücke von verschiedenem Gewicht in Kugeln gehämmert und mit
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Einschnitten versehen, zum Beschweren der Schnüre. Dann kamen die
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Angelhaken, von denen noch ein kleiner Vorrat da war. Sie wurden teils
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an vierfachem schwarzen Nähfaden, teils an einem Rest Darmsaite, teils
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an zusammengedrehten Roßhaarschnüren befestigt. Gegen Abend war alles
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fertig und Hans war nun sicher, in den langen sieben Ferienwochen keine
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Langeweile haben zu müssen, denn mit der Angelrute konnte er ganze Tage
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allein am Wasser zubringen.
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Zweites Kapitel
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So müssen Sommerferien sein! Über den Bergen ein enzianblauer Himmel,
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wochenlang ein strahlend heißer Tag am andern, nur je und je ein
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heftiges, kurzes Gewitter. Der Fluß, obwohl er seinen Weg durch so viel
|
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|
Sandsteinfelsen und Tannenschatten und enge Täler hat, war so erwärmt,
|
||
|
daß man noch spät am Abend baden konnte. Rings um das Städtchen her war
|
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|
Heu- und Öhmdgeruch, die schmalen Bänder der paar Kornäcker wurden gelb
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||
|
und goldbraun, an den Bächen geilten mannshoch die weißblühenden,
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||
|
schierlingartigen Pflanzen, deren Blüten schirmförmig und stets von
|
||
|
winzigen Käfern bedeckt sind und aus deren hohlen Stengeln man Flöten
|
||
|
und Pfeifen schneiden kann. An den Waldrändern prunkten lange Reihen von
|
||
|
wolligen, gelbblühenden, majestätischen Königskerzen, Weiderich und
|
||
|
Weidenröschen wiegten sich auf ihren schlanken, zähen Stielen und
|
||
|
bedeckten ganze Abhänge mit ihrem violetten Rot. Innen unter den Tannen
|
||
|
stand ernst und schön und fremdartig der hohe, steile, rote Fingerhut
|
||
|
mit den silberwolligen breiten Wurzelblättern, dem starken Stengel und
|
||
|
den hochaufgereihten, schönroten Kelchblüten. Daneben die vielerlei
|
||
|
Pilze: der rote, leuchtende Fliegenschwamm, der fette, breite Steinpilz,
|
||
|
der abenteuerliche Bocksbart, der rote, vielästige Korallenpilz und der
|
||
|
sonderbar farblose, kränklich feiste Fichtenspargel. Auf den vielen
|
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|
heidigen Rainen zwischen Wald und Wiese flammte brandgelb der zähe
|
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|
Ginster, dann kamen lange, lilarote Bänder von Erika, dann die Wiesen
|
||
|
selber, zumeist schon vor dem zweiten Schnitte stehend, von Schaumkraut,
|
||
|
Lichtnelken, Salbei, Skabiosen farbig überwuchert. Im Laubwald sangen
|
||
|
die Buchfinken ohne Aufhören, im Tannenwald rannten fuchsrote
|
||
|
Eichhörnchen durch die Wipfel, an Rainen, Mauern und trockenen Gräben
|
||
|
atmeten und schimmerten grüne Eidechsen wohlig in der Wärme, und über
|
||
|
die Wiesen hin läuteten endlos die hohen, schmetternden, nie ermüdenden
|
||
|
Zikadenlieder.
|
||
|
|
||
|
Die Stadt machte um diese Zeit einen sehr bäuerlichen Eindruck;
|
||
|
Heuwagen, Heugeruch und Sensendengeln erfüllte die Straßen und Lüfte;
|
||
|
wenn nicht die zwei Fabriken gewesen wären, hätte man geglaubt, in einem
|
||
|
Dorf zu sein.
|
||
|
|
||
|
Früh am Morgen des ersten Ferientages stand Hans schon ungeduldig in der
|
||
|
Küche und wartete auf den Kaffee, als die alte Anna noch kaum
|
||
|
aufgestanden war. Er half Feuer machen, holte Brot vom Becken, stürzte
|
||
|
schnell den mit frischer Milch gekühlten Kaffee hinunter, steckte Brot
|
||
|
in die Tasche und lief davon. Am oberen Bahndamm machte er halt, zog
|
||
|
eine runde Blechschachtel aus der Hosentasche und begann fleißig
|
||
|
Heuschrecken zu fangen. Die Eisenbahn lief vorüber -- nicht im Sturm,
|
||
|
denn die Linie steigt dort gewaltig, sondern schön behaglich, mit lauter
|
||
|
offenen Fenstern und wenig Passagieren, eine lange, fröhliche Fahne von
|
||
|
Rauch und Dampf hinter sich flattern lassend. Er sah ihr nach und sah
|
||
|
zu, wie der weißliche Rauch verwirbelte und sich bald in die sonnigen,
|
||
|
frühklaren Lüfte verlor. Wie lang hatte er das alles nimmer gesehen! Er
|
||
|
tat große Atemzüge, als wolle er die verlorene schöne Zeit nun doppelt
|
||
|
einholen und noch einmal recht ungeniert und sorgenlos ein kleiner Knabe
|
||
|
sein.
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||
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||
|
Das Herz klopfte ihm vor heimlicher Wonne und Jägerlust, als er mit der
|
||
|
Heuschreckenschachtel und dem neuen Angelstock über die Brücke und
|
||
|
hinten durch die Gärten zum Gaulsgumpen, der tiefsten Stelle des
|
||
|
Flusses, schritt. Dort war ein Platz, wo man, an einen Weidenstamm
|
||
|
gelehnt, bequemer und ungestörter fischen konnte als sonst irgendwo. Er
|
||
|
wickelte die Schnur ab, tat ein kleines Schrotkorn daran, spießte
|
||
|
erbarmungslos eine feiste Heuschrecke auf den Haken und schleuderte die
|
||
|
Angel mit weitem Schwung gegen die Flußmitte. Das alte, wohlbekannte
|
||
|
Spiel begann: die kleinen Blecken schwärmten in ganzen Scharen um den
|
||
|
Köder und versuchten ihn vom Haken zu zerren. Bald war er weggefressen,
|
||
|
eine zweite Heuschrecke kam an die Reihe, und noch eine, und eine vierte
|
||
|
und fünfte. Immer vorsichtiger befestigte er sie am Haken, schließlich
|
||
|
beschwerte er die Schnur mit einem weiteren Schrotkorn, und nun
|
||
|
probierte der erste ordentliche Fisch den Köder. Er zerrte ein wenig
|
||
|
daran, ließ ihn wieder los, probierte nochmals. Nun biß er an -- das
|
||
|
spürt ein guter Angler durch Schnur und Stock hindurch in den Fingern
|
||
|
zucken! Hans tat einen künstlichen Ruck und begann ganz vorsichtig zu
|
||
|
ziehen. Der Fisch saß, und als er sichtbar wurde, erkannte Hans ein
|
||
|
Rotauge. Man kennt sie gleich am breiten, weißgelblich schimmernden
|
||
|
Leib, am dreieckigen Kopf und namentlich an dem schönen, fleischroten
|
||
|
Ansatz der Bauchflossen. Wie schwer mochte er wohl sein? Aber ehe er es
|
||
|
schätzen konnte, tat der Fisch einen verzweifelten Schlag, wirbelte
|
||
|
angstvoll über die Wasserfläche und entkam. Man sah ihn noch, wie er
|
||
|
sich drei-, viermal im Wasser umdrehte und dann wie ein silberner Blitz
|
||
|
in die Tiefe verschwand. Er hatte schlecht gebissen.
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||
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||
|
In dem Angler war nun die Aufregung und leidenschaftliche Aufmerksamkeit
|
||
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der Jagd erwacht. Sein Blick hing scharf und unverwandt an der dünnen
|
||
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braunen Schnur, da wo sie das Wasser berührte, seine Backen waren
|
||
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gerötet, seine Bewegungen knapp, rasch und sicher. Ein zweites Rotauge
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|
biß an und kam heraus, dann ein kleiner Karpfen, für den es fast schade
|
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war, dann hintereinander drei Kresser. Die Kresser freuten ihn
|
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besonders, da der Vater sie gerne aß. Sie werden höchstens handlang,
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haben einen fetten, kleinschuppigen Leib, dicken Kopf mit drolligem
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weißen Bart, kleine Augen und einen schlanken Hinterleib. Die Farbe ist
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zwischen grün und braun und spielt, wenn der Fisch ans Land kommt, ins
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Stahlblaue.
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Inzwischen war die Sonne hochgestiegen, der Schaum am obern Wehr
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leuchtete schneeweiß, über dem Wasser zitterte die warme Luft und wenn
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man aufblickte, sah man über dem Muckberg ein paar handgroße, blendende
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Wölkchen stehen. Es wurde heiß. Nichts bringt die Wärme eines reinen
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Hochsommertages so zum Ausdruck wie die paar ruhigen kleinen Wölkchen,
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die still und weiß in halber Höhe der Bläue stehen und so mit Licht
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gefüllt und durchtränkt sind, daß man sie nicht lange ansehen kann. Ohne
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sie würde man oft gar nicht merken, wie heiß es ist, nicht am blauen
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Himmel noch am Glitzern des Flußspiegels, aber sobald man die paar
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schaumweißen, festgeballten Mittagssegler sieht, spürt man plötzlich die
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Sonne brennen, sucht den Schatten und fährt sich mit der Hand über die
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feuchte Stirn.
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Hans achtete allmählich weniger streng auf die Angel. Er war ein wenig
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müde und sowieso pflegt man gegen Mittag fast nichts zu fangen. Die
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Weißfische, auch die ältesten und größten, kommen um diese Zeit nach
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oben, um sich zu sonnen. Sie schwimmen träumerisch in großen dunklen
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Zügen flußaufwärts, dicht an der Oberfläche, erschrecken zuweilen
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plötzlich ohne sichtbare Ursache und gehen in diesen Stunden an keine
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Angel.
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Er ließ die Schnur über einen Zweig der Weide hinweg ins Wasser hängen,
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setzte sich auf den Boden und schaute auf den grünen Fluß. Langsam kamen
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die Fische nach oben, ein dunkler Rücken um den andern erschien auf der
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Fläche -- stille, langsam schwimmende, von der Wärme emporgelockte und
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bezauberte Züge. Denen konnte im warmen Wasser wohl sein! Hans zog die
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Stiefel aus und ließ die Füße ins Wasser hängen, das an der Oberfläche
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ganz lau war. Er betrachtete die gefangenen Fische, die regungslos in
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einer großen Gießkanne schwammen und nur hin und wieder leise
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plätscherten. Wie schön sie waren! Weiß, Braun, Grün, Silber, Mattgold,
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Blau und andere Farben glänzten bei jeder Bewegung an den Schuppen und
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Flossen.
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Es war sehr still. Kaum hörte man das Geräusch der über die Brücke
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fahrenden Wagen, auch das Klappern der Mühle war hier nur noch ganz
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schwach vernehmbar. Nur das stetige milde Rauschen des weißen Wehrs
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klang ruhig, kühl und schläfernd herab und an den Floßpfählen der leise,
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quirlende Laut des ziehenden Wassers.
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Griechisch und Latein, Grammatik und Stilistik, Rechnen und Memorieren
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und der ganze folternde Trubel eines langen, ruhelosen, gehetzten Jahres
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sanken still in der schläfernd warmen Stunde unter. Hans hatte ein wenig
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Kopfweh, aber lang nicht so stark wie sonst, und nun konnte er ja wieder
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am Wasser sitzen, sah den Schaum am Wehr zerstäuben, blinzelte nach der
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Angelschnur, und neben ihm schwammen in der Kanne die gefangenen Fische.
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Das war so köstlich. Zwischendurch fiel ihm plötzlich ein, daß er das
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Landexamen bestanden habe und Zweiter geworden sei, da klatschte er mit
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den nackten Füßen ins Wasser, steckte beide Hände in die Hosentaschen
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und fing an, eine Melodie zu pfeifen. Richtig und eigentlich pfeifen
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konnte er zwar nicht, das war ein alter Kummer und hatte ihm von den
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Schulkameraden schon Spott genug eingetragen. Er konnte es nur durch die
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Zähne und nur leise, aber für den Hausbrauch genügte das und jetzt
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konnte ihn ja keiner hören. Die andern saßen jetzt in der Schule und
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hatten Geographie, nur er allein war frei und entlassen. Er hatte sie
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überholt, sie standen jetzt unter ihm. Sie hatten ihn genug geplagt,
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weil er außer August keine Freundschaften und an ihren Raufereien und
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Spielen keine rechte Freude gehabt hatte. So, nun konnten sie ihm
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nachsehen, die Dackel, die Dickköpfe. Er verachtete sie so sehr, daß er
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einen Augenblick zu pfeifen aufhörte, um den Mund zu verziehen. Dann
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rollte er seine Schnur auf und mußte lachen, denn es war auch keine
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Faser vom Köder mehr am Haken. Die in der Schachtel übriggebliebenen
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Heuschrecken wurden freigelassen und krochen betäubt und unlustig ins
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kurze Gras. Nebenan in der Rotgerberei wurde schon Mittag gemacht; es
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war Zeit zum Essen zu gehen.
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Am Mittagstisch wurde kaum ein Wort gesprochen.
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»Hast was gefangen?« fragte der Papa.
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»Fünf Stück.«
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»Ei so? Na, paß nur auf, daß du den Alten nicht fangst, sonst gibt's
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nachher keine Jungen mehr.«
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Weiter gedieh keine Unterhaltung. Es war so warm. Und es war so schade,
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daß man nicht gleich nach dem Essen ins Bad durfte. Warum eigentlich? Es
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sei schädlich! Hat sich was mit schädlich; Hans wußte das besser, er war
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trotz des Verbots oft genug gegangen. Aber jetzt nimmer, er war für
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Unarten doch schon zu erwachsen. Herr Gott, im Examen hatte man »Sie« zu
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ihm gesagt!
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Schließlich war es auch gar nicht schlecht, eine Stunde im Garten unter
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der Rottanne zu liegen. Schatten gab es genug und man konnte lesen oder
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den Schmetterlingen zusehen. So lag er denn dort bis zwei Uhr und wenig
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fehlte, so wäre er eingeschlafen. Aber jetzt ins Bad! Nur ein paar
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kleine Buben waren auf der Badwiese, die größern saßen alle in der
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Schule und Hans gönnte es ihnen von Herzen. Schön langsam zog er die
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Kleider ab und stieg ins Wasser. Er verstand es, Wärme und Kühlung
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wechselnd zu genießen; bald schwamm er ein Stück und tauchte und
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plätscherte, bald lag er bäuchlings am Ufer und fühlte auf der schnell
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trocknenden Haut die Sonne glühen. Die kleinen Buben schlichen
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respektvoll um ihn her. Ja wohl, er war eine Berühmtheit geworden. Und
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er sah auch so anders aus als die übrigen. Auf dem dünnen, gebräunten
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Halse saß frei und elegant der feine Kopf mit dem geistigen Gesicht und
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den überlegenen Augen. Im übrigen war er sehr mager, schmalgliedrig und
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zart, auf Brust und Rücken konnte man ihm die Rippen zählen, und Waden
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hatte er fast gar keine.
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Fast den ganzen Nachmittag trieb er sich zwischen Sonne und Wasser hin
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und her. Nach vier Uhr kamen die meisten von seiner Klasse eilig und
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lärmend dahergelaufen.
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»Oha, Giebenrath! Du hast's jetzt gut.«
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Er streckte sich behaglich. »'s geht an, ja.«
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»Wann mußt du ins Seminar?«
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»Erst im September. Jetzt ist Vakanz.«
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Er ließ sich beneiden. Es berührte ihn nicht einmal, als im Hintergrund
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Gespött laut wurde und einer den Vers sang:
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Wenn i's no au so hätt',
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Wie's Schulze Lisabeth!
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Die leit bei Dag im Bett,
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So han' i's net.
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Er lachte nur. Inzwischen entkleideten sich die Buben. Der eine sprang
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frischweg ins Wasser, andere kühlten sich erst vorsichtig ab, manche
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legten sich vorher noch ein wenig ins Gras. Ein guter Taucher wurde
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bewundert. Ein Angstpeter wurde hinterrücks ins Wasser gestoßen und
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schrie Mordio. Man jagte einander, lief und schwamm, spritzte die
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Trockenbader am Lande. Das Geplätscher und Geschrei war groß, und die
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ganze Flußbreite glänzte von hellen, nassen, blanken Leibern.
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Nach einer Stunde ging Hans fort. Es kamen die warmen Abendstunden, wo
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die Fische wieder beißen. Bis zum Abendessen angelte er auf der Brücke
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und fing so gut wie gar nichts. Die Fische waren gierig hinter der Angel
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her, jeden Augenblick war der Köder weggefressen, aber nichts blieb
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hängen. Er hatte Kirschen am Haken, offenbar waren sie zu groß und zu
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weich. Er beschloß, später noch einen Versuch zu machen.
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Beim Abendessen erfuhr er, es sei eine Menge von Bekannten zum
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Gratulieren dagewesen. Und man zeigte ihm das heutige Wochenblatt, da
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stand unter dem »Amtlichen« eine Notiz: »An die Aufnahmeprüfung zum
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niederen theologischen Seminar hat unsre Stadt diesmal nur einen
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Kandidaten, Hans Giebenrath, geschickt. Zu unsrer Freude erfahren wir
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soeben, daß derselbe die Prüfung als Zweiter bestanden hat.«
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Er faltete das Blatt zusammen, steckte es in die Tasche und sagte
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nichts, war aber zum Zerspringen voll von Stolz und Jubel. Nachher ging
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er wieder zum Fischen. Als Köder nahm er diesmal ein paar Stückchen Käse
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mit; der schmeckt den Fischen und kann in der Dämmerung gut von ihnen
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gesehen werden.
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Die Rute ließ er stehen und nahm nur eine ganz einfache Handangel mit.
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Das war ihm das liebste Fischen: die Schnur ohne Stock und ohne
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Schwimmer in der Hand zu halten, so daß die ganze Angel nur aus Leine
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und Haken bestand. Es war etwas mühsamer, aber viel lustiger. Man
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beherrschte dabei jede geringste Bewegung des Köders, spürte jedes
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Probieren und Anbeißen und konnte im Zucken der Leine die Fische
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beobachten, wie wenn man sie vor sich sähe. Freilich, diese Art zu
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fischen will verstanden sein, man muß geschickte Finger haben und
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aufpassen wie ein Spion.
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In dem engen, tief eingeschnittenen und gewundenen Flußtal kam die
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Dämmerung früh. Das Wasser lag schwarz und still unter der Brücke, in
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der untern Mühle war schon Licht. Geplauder und Gesang lief über Brücken
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und Gassen, die Luft war ein wenig schwül, und im Flusse sprang alle
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Augenblicke ein dunkler Fisch mit kurzem Schlag in die Höhe. An solchen
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Abenden sind die Fische merkwürdig erregt, schießen im Zickzack hin und
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her, schnellen sich in die Luft, stoßen sich an der Angelschnur und
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stürzen sich blindlings auf den Köder. Als das letzte Stückchen Käse
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verbraucht war, hatte Hans vier kleinere Karpfen herausgezogen; die
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wollte er morgen dem Stadtpfarrer bringen.
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Ein warmer Wind lief talabwärts. Es dunkelte stark, aber der Himmel war
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noch licht. Aus dem ganzen dunkelnden Städtchen stieg nur der Kirchturm
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und das Schloßdach schwarz und scharf in die helle Höhe. Ganz in der
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Ferne mußte es irgendwo gewittern, man hörte zuweilen ein sanftes, weit
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entferntes Donnern.
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Als Hans um zehn Uhr in sein Bett stieg, war er in Kopf und Gliedern so
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angenehm müde und schläfrig wie schon lange nicht mehr. Eine lange Reihe
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schöner, freier Sommertage lag beruhigend und verlockend vor ihm, Tage
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zum Verbummeln, Verbaden, Verangeln, Verträumen. Bloß das eine wurmte
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ihn, daß er nicht vollends Erster geworden war.
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* * * * *
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Schon am frühen Vormittag stand Hans im Öhrn des Stadtpfarrhauses und
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lieferte seine Fische ab. Der Stadtpfarrer kam aus seiner Studierstube.
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»Ach, Hans Giebenrath! Guten Morgen! Ich gratuliere, ich gratuliere von
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Herzen. -- Und was hast du denn da?«
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»Bloß ein paar Fische. Ich hab' gestern geangelt.«
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»Ei, da schau' her! Danke schön. Nun komm' aber herein.«
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Hans trat in die ihm wohlbekannte Studierstube. Wie in einer
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Pfarrersstube sah es eigentlich hier nicht aus. Es roch weder nach
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Blumenstöcken noch nach Tabak. Die ansehnliche Büchersammlung zeigte
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fast lauter neue, sauber lackierte und vergoldete Rücken, nicht die
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abgeschossenen, schiefen, wurmstichigen und stockfleckigen Bände, die
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man sonst in Pfarrbibliotheken findet. Wer genauer zusah, merkte auch
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den Titeln der wohlgeordneten Bücher einen neuen Geist an, einen
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anderen, als der in den altmodisch ehrwürdigen Herren der absterbenden
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Generation lebte. Die ehrenwerten Prunkstücke einer Pfarrbücherei, die
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Bengel, Ötinger, Steinhofer samt frommen Liedersängern, welche Mörike im
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»Turmhahn« so schön und herzlich besingt, fehlten hier oder
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verschwanden doch in der Menge moderner Werke. Alles in allem, samt
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Zeitschriftenmappen, Stehpult und großem, blätterbestreutem Schreibtisch
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sah gelehrt und ernst aus. Man bekam den Eindruck, daß hier viel
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gearbeitet werde. Und es wurde hier auch viel gearbeitet, freilich
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weniger an Predigten, Katechesen und Bibelstunden als an Untersuchungen
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und Artikeln für gelehrte Journale und an Vorstudien zu eigenen Büchern.
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Die träumerische Mystik und ahnungsvolle Grübelei war von diesem Ort
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verbannt, verbannt war auch die naive Herzenstheologie, welche über die
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Schlünde der Wissenschaft hinweg sich der dürstenden Volksseele in Liebe
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und Mitleid entgegenneigt. Statt dessen wurde hier mit Eifer Bibelkritik
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getrieben und nach dem »historischen Christus« gefahndet, der den
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modernen Theologen zwar wie Wasser vom Munde, aber auch wie ein Aal
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durch die Finger gleitet.
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Es ist eben in der Theologie nicht anders als anderwärts. Es gibt eine
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Theologie, die ist Kunst, und eine andere, die ist Wissenschaft oder
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bestrebt sich wenigstens, es zu sein. Das war vor alters so wie heute,
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und immer haben die Wissenschaftlichen über den neuen Schläuchen den
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alten Wein versäumt, indes die Künstler, sorglos bei manchem äußerlichen
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Irrtum verharrend, Tröster und Freudebringer für viele gewesen sind. Es
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ist der alte, ungleiche Kampf zwischen Kritik und Schöpfung,
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Wissenschaft und Kunst, wobei jene immer recht hat, ohne daß jemand
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damit gedient wäre, diese aber immer wieder den Samen des Glaubens, der
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Liebe, des Trostes und der Schönheit und Ewigkeitsahnung hinauswirft und
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immer wieder guten Boden findet. Denn das Leben ist stärker als der Tod,
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und der Glaube ist mächtiger als der Zweifel.
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Zum erstenmal saß Hans auf dem kleinen Ledersofa zwischen Stehpult und
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|
Fenster. Der Stadtpfarrer war überaus freundlich. Ganz kameradschaftlich
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erzählte er vom Seminar, und wie man dort lebe und studiere.
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»Das wichtigste Neue,« sagte er zum Schluß, »was du dort erleben wirst,
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ist die Einführung in das neutestamentliche Griechisch. Es wird dir eine
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neue Welt damit aufgehen, reich an Arbeit und Freude. Im Anfang wird die
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Sprache dir Mühe machen; das ist kein attisches Griechisch mehr, sondern
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ein neues, von einem neuen Geist geschaffenes Idiom.«
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Hans hörte aufmerksam zu und fühlte sich mit Stolz der wahren
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Wissenschaft genähert.
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»Die schulmäßige Einführung in diese neue Welt«, fuhr der Stadtpfarrer
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fort, »nimmt ihr natürlich manches von ihrem Zauber. Auch wird dich im
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Seminar zunächst das Hebräische vielleicht zu einseitig in Anspruch
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nehmen. Wenn du nun Lust hast, so könnten wir in diesen Ferien einen
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kleinen Anfang machen. Im Seminar wirst du dann froh sein, Zeit und
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Kraft für anderes übrig zu behalten. Wir könnten ein paar Kapitel Lukas
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zusammen lesen, und du würdest die Sprache fast spielend nebenher
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lernen. Ein Wörterbuch kann ich dir leihen. Du würdest etwa täglich eine
|
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Stunde, höchstens zwei, daran rücken. Mehr natürlich nicht, denn vor
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allem mußt du jetzt deine verdiente Erholung haben. Natürlich ist das
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nur ein Vorschlag -- ich möchte dir ja nicht das schöne Feriengefühl
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damit verderben.«
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Hans sagte natürlich zu. Zwar erschien ihm diese Lukasstunde wie eine
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leichte Wolke am fröhlich blauen Himmel seiner Freiheit, doch schämte er
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sich, abzulehnen. Und eine neue Sprache so in den Ferien nebenher zu
|
||
|
lernen, war gewiß mehr Vergnügen als Arbeit. Vor dem vielen Neuen, das
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||
|
im Seminar zu lernen wäre, hatte er ohnehin eine leise Furcht, besonders
|
||
|
vor dem Hebräischen.
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Nicht unbefriedigt verließ er den Stadtpfarrer und schlug sich durch den
|
||
|
Lärchenweg aufwärts in den Wald. Der kleine Unmut war schon verflogen,
|
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|
und je mehr er sich die Sache überlegte, desto annehmbarer kam sie ihm
|
||
|
vor. Denn das wußte er wohl, daß er im Seminar noch ehrgeiziger und
|
||
|
zäher arbeiten müsse, wenn er auch dort die Kameraden hinter sich lassen
|
||
|
wollte. Und das wollte er entschieden. Warum eigentlich? Das wußte er
|
||
|
selber nicht. Seit drei Jahren war man auf ihn aufmerksam, hatten die
|
||
|
Lehrer, der Stadtpfarrer, der Vater und namentlich der Rektor ihn
|
||
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angespornt und gestachelt in Atem gehalten. Die ganze lange Zeit, von
|
||
|
Klasse zu Klasse, war er unbestrittener Primus gewesen. Und nun hatte er
|
||
|
allmählich selber seinen Stolz darein gesetzt, obenan zu sein und keinen
|
||
|
neben sich zu dulden. Und die dumme Examensangst war jetzt vorbei.
|
||
|
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|
Freilich, Ferien haben war doch eigentlich das Schönste. Wie ungewohnt
|
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|
schön der Wald nun wieder war in diesen Morgenstunden, wo es keinen
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Spaziergänger darin gab als ihn! Säule an Säule standen die Rottannen,
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||
|
eine unendliche Halle blaugrün überwölbend. Unterholz gab es wenig, nur
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||
|
da und dort ein dickes Himbeergestrüppe, dafür einen stundenbreiten,
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||
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weichen, pelzigen Moosboden, von niederen Heidelbeerstöcken und Erika
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bestanden. Der Tau war schon getrocknet, und zwischen den bolzgeraden
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||
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Stämmen wiegte sich die eigentümliche Waldmorgenschwüle, die, aus
|
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Sonnenwärme, Taudunst, Moosduft und dem Geruch von Harz, Tannennadeln
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und Pilzen, gemischt sich einschmeichelnd mit leichter Betäubung an alle
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Sinne schmiegt. Hans warf sich ins Moos, weidete die dunklen,
|
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|
dichtbestandenen Schwarzbeersträucher ab, hörte da und dort den Specht
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am Stamme hämmern und den eifersüchtigen Kuckuck rufen. Zwischen den
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schwärzlich dunkeln Tannenkronen schaute fleckenlos tiefblau der Himmel
|
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|
herein, in die Ferne hin drängten sich die tausend und tausend
|
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|
senkrechten Stämme zu einer ernsten braunen Wand zusammen, hie und da
|
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lag ein gelber Sonnenfleck warm und sattglänzend ins Moos gestreut.
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||
|
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|
Eigentlich hatte Hans einen großen Spaziergang machen wollen, mindestens
|
||
|
bis zum Lützeler Hof oder zur Krokuswiese. Nun lag er im Moos, aß
|
||
|
Heidelbeeren und staunte träge in die Luft. Es fing ihn selber an zu
|
||
|
wundern, daß er so müde war. Früher war ihm ein Gang von drei, vier
|
||
|
Stunden doch gar nichts gewesen. Er beschloß, sich aufzuraffen und ein
|
||
|
tüchtiges Stück zu marschieren. Und er ging ein paar hundert Schritte.
|
||
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Da lag er schon wieder, er wußte nicht, wie es kam, im Moos und ruhte.
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||
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Er blieb liegen, sein Blick irrte blinzelnd durch Stämme und Wipfel und
|
||
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am grünen Boden hin. Daß diese Luft so müd machte!
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|
Als er gegen Mittag heimkam, hatte er wieder Kopfweh. Auch die Augen
|
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taten ihm weh, auf der Waldsteig hatte die Sonne so heillos geblendet.
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|
Den halben Nachmittag saß er verdrossen im Haus herum, erst beim Baden
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wurde er wieder frisch. Es war jetzt Zeit, zum Stadtpfarrer zu gehen.
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Unterwegs sah ihn der Schuster Flaig, der am Fenster seiner Werkstatt
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auf dem Dreibein saß, und rief ihn herein.
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»Wohin, mein Sohn? Man sieht dich ja gar nimmer?«
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»Jetzt muß ich zum Stadtpfarrer.«
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»Immer noch? Das Examen ist doch vorbei.«
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»Ja, jetzt kommt was andres dran. Neues Testament. Nämlich das Neue
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|
Testament ist ja griechisch geschrieben, aber wieder in einem ganz
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|
andern Griechisch, als was ich gelernt hab'. Das soll ich jetzt lernen.«
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Der Schuster schob die Mütze weit ins Genick und zog seine große
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Grüblerstirn zu dicken Falten zusammen. Er seufzte schwer.
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»Hans,« sagte er leise, »ich will dir was sagen. Bis jetzt hab' ich mich
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still gehalten, von wegen dem Examen, aber jetzt muß ich dich mahnen. Du
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mußt nämlich wissen, daß der Stadtpfarrer ein Ungläubiger ist. Er wird
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dir sagen und vormachen, die heiligen Schriften seien falsch und
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verlogen, und wenn du mit ihm das Neue Testament gelesen hast, dann hast
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du selber deinen Glauben verloren und weißt nicht wie.«
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»Aber, Herr Flaig, es handelt sich ja bloß ums Griechische. Im Seminar
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muß ich's ja sowieso lernen.«
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»So sagst du. Es ist aber zweierlei, ob du die Bibel bei frommen und
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gewissenhaften Lehrern studieren lernst oder bei einem, der nicht mehr
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an den lieben Gott glaubt.«
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»Ja, das weiß man doch nicht, ob er wirklich nicht an ihn glaubt.«
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»Doch, Hans, man weiß es leider.«
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»Aber was soll ich machen? Ich hab' nun schon mit ihm ausgemacht, daß
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ich komme.«
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»Dann mußt du auch kommen, das versteht sich. Aber lieber nimmer oft.
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Und wenn er solche Sachen über die Bibel sagt, sie sei Menschenwerk und
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sei verlogen und nicht vom heiligen Geist eingegeben, dann kommst du zu
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mir, und wir reden darüber. Willst du?«
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»Ja, Herr Flaig. Es wird aber sicher nicht so schlimm sein.«
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»Du wirst sehen; denk' an mich!«
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Der Stadtpfarrer war noch nicht zu Hause, und Hans mußte in der
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Studierstube auf ihn warten. Während er die goldenen Büchertitel
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betrachtete, gaben ihm die Reden des Schuhmachermeisters zu denken.
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Derartige Äußerungen über den Stadtpfarrer und die neumodischen
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Geistlichen überhaupt hatte er schon öfters gehört. Doch fühlte er jetzt
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zum erstenmal mit Spannung und Neugierde sich selber in diese Dinge
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hineingezogen. So wichtig und schrecklich wie dem Schuster waren sie ihm
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nicht, vielmehr witterte er hier die Möglichkeit, hinter alte, große
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Geheimnisse zu dringen. In den früheren Schülerjahren hatten ihn die
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Fragen nach Gottes Allgegenwart, nach dem Verbleib der Seelen, nach
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Teufel und Hölle hie und da zu phantastischen Grübeleien erregt, doch
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war alles das in den letzten strengen und fleißigen Jahren
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eingeschlafen, und sein schulmäßiger Christenglaube war nur in
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Gesprächen mit dem Schuhmacher gelegentlich zu einigem persönlichen
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Leben aufgewacht. Er mußte lächeln, wenn er jenen mit dem Stadtpfarrer
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verglich. Des Schusters herbe, in bitteren Jahren erworbene Festigkeit
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konnte der Knabe nicht verstehen und im übrigen war Flaig ein zwar
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gescheiter, aber schlichter und einseitiger Mensch, von vielen wegen
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seiner Pietisterei verhöhnt. In den Versammlungen der Stundenbrüder trat
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er als strenger brüderlicher Richter und als ein gewaltiger Ausleger der
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Heiligen Schrift auf, hielt auch in den Dörfern herum seine
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Erbauungsstunden, sonst aber war er eben ein kleiner Handwerksmann und
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beschränkt wie alle andern. Der Stadtpfarrer hingegen war nicht nur ein
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gewandter, wohlredender Mann und Prediger, sondern außerdem ein
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fleißiger und strenger Gelehrter. Hans schaute mit Ehrfurcht an den
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Bücherschäften hinauf.
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Der Stadtpfarrer kam bald, vertauschte den Gehrock mit einer leichten
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schwarzen Hausjacke, gab dem Schüler eine griechische Textausgabe des
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Lukasevangeliums in die Hand und forderte ihn auf, zu lesen. Das war
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ganz anders, als die Lateinstunden gewesen waren. Sie lasen nur wenige
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Sätze, die wurden mit peinlicher Wörtlichkeit übersetzt, und dann
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entwickelte der Lehrer aus unscheinbaren Beispielen geschickt und beredt
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den eigentümlichen Geist dieser Sprache, redete über die Zeit und Weise
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der Entstehung des Buches und gab in der einzigen Stunde dem Knaben
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einen ganz neuen Begriff von Lernen und Lesen. Hans bekam eine Ahnung
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davon, welche Rätsel und Aufgaben in jedem Vers und Wort verborgen
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lagen, wie seit alten Zeiten her Tausende von Gelehrten, Grüblern und
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Forschern sich um diese Fragen bemüht hatten, und es kam ihm vor, er
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selber werde in dieser Stunde in den Kreis der Wahrheitssucher
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aufgenommen.
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Er bekam ein Lexikon und eine Grammatik geliehen und arbeitete daheim
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noch den ganzen Abend weiter. Nun spürte er, über wieviel Berge von
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Arbeit und Wissen der Weg zur wahren Forschung führe, und er war bereit,
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sich hindurchzuschlagen und nichts am Wege liegen zu lassen. Der
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Schuhmacher war einstweilen vergessen.
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Einige Tage nahm dies neue Wesen ihn ganz in Anspruch. Jeden Abend ging
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er zum Stadtpfarrer, und jeden Tag kam ihm die wahre Gelehrsamkeit
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schöner, schwieriger und erstrebenswerter vor. Morgens in den
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Frühstunden ging er zum Angeln, nachmittags auf die Badwiese, sonst kam
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er wenig aus dem Hause. Der in der Angst und im Triumph des Examens
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untergetauchte Ehrgeiz war wieder wach und ließ ihm keine Ruhe. Zugleich
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begann wieder das eigentümliche Gefühl im Kopf sich zu regen, das er in
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den letzten Monaten so oft gefühlt hatte -- kein Schmerz, sondern ein
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hastig triumphierendes Treiben beschleunigter Pulse und heftig
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aufgeregter Kräfte, ein eilig ungestümes Vorwärtsbegehren. Nachher kam
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freilich das Kopfweh, aber solange jenes feine Fieber dauerte, rückte
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Lektüre und Arbeit stürmisch voran, dann las er spielend die schwersten
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Sätze im Xenophon, die ihn sonst Viertelstunden kosteten, dann brauchte
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er das Wörterbuch fast gar nie, sondern flog mit geschärftem Verständnis
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über ganze schwere Seiten rasch und freudig hinweg. Mit diesem
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gesteigerten Arbeitsfieber und Erkenntnisdurst traf dann ein stolzes
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Selbstgefühl zusammen, als lägen Schule und Lehrer und Lehrjahre schon
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längst hinter ihm und als schreite er schon eine eigene Bahn, der Höhe
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des Wissens und Könnens entgegen.
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Das kam nun wieder über ihn und zugleich der leichte, oft unterbrochene
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Schlaf mit sonderbar klaren Träumen. Wenn er nachts mit leichtem Kopfweh
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erwachte und nicht wieder einschlafen konnte, befiel ihn eine Ungeduld,
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vorwärts zu kommen, und ein überlegener Stolz, wenn er daran dachte, um
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wieviel er allen Kameraden voraus war, und wie Lehrer und Rektor ihn mit
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einer Art von Achtung und sogar Bewunderung betrachtet hatten.
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Dem Rektor war es ein inniges Vergnügen gewesen, diesen von ihm
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geweckten, schönen Ehrgeiz zu leiten und wachsen zu sehen. Man sage
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nicht, Schulmeister haben kein Herz und seien verknöcherte und entseelte
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Pedanten! O nein, wenn ein Lehrer sieht, wie eines Kindes lange
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erfolglos gereiztes Talent hervorbricht, wie ein Knabe Holzsäbel und
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Schleuder und Bogen und die anderen kindischen Spielereien ablegt, wie
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er vorwärts zu streben beginnt, wie der Ernst der Arbeit aus einem
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rauhen Pausback einen feinen, ernsten und fast asketischen Knaben macht,
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wie sein Gesicht älter und geistiger, sein Blick tiefer und
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zielbewußter, seine Hand ruhiger, weißer und stiller wird, dann lacht
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ihm die Seele vor Freude und Stolz. Seine Pflicht und sein ihm vom Staat
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überantworteter Beruf ist es, in dem jungen Knaben die rohen Kräfte und
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Begierden der Natur zu bändigen und auszurotten und an ihre Stelle
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stille, mäßige und staatlich anerkannte Ideale zu pflanzen. Wie mancher,
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der jetzt ein zufriedener Bürger und strebsamer Beamter ist, wäre ohne
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diese Bemühungen der Schule zu einem haltlos stürmenden Neuerer oder
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unfruchtbar sinnenden Träumer geworden! Es war etwas in ihm, etwas
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Wildes, Regelloses, Kulturloses, das mußte erst zerbrochen werden, eine
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gefährliche Flamme, die mußte erst gelöscht und ausgetreten werden. Der
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Mensch, wie ihn die Natur erschafft, ist etwas Unberechenbares,
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Undurchsichtiges, Feindliches. Er ist ein von unbekanntem Berge
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herbrechender Strom und ist ein Urwald ohne Weg und Ordnung. Und wie ein
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Urwald gelichtet und gereinigt und gewaltsam eingeschränkt werden muß,
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so muß die Schule den natürlichen Menschen zerbrechen, besiegen
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und gewaltsam einschränken; ihre Aufgabe ist es, ihn nach
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obrigkeitlicherseits gebilligten Grundsätzen zu einem nützlichen Gliede
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der Gesellschaft zu machen und die Eigenschaften in ihm zu wecken, deren
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völlige Ausbildung alsdann die sorgfältige Zucht der Kaserne krönend
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beendigt.
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Wie schön hatte sich der kleine Giebenrath entwickelt! Das Strolchen und
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Spielen hatte er fast von selber abgelegt, das dumme Lachen in den
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Lektionen kam bei ihm längst nimmer vor, auch die Gärtnerei, das
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Kaninchenhalten und das leidige Angeln hatte er sich abgewöhnen lassen.
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Eines Abends erschien der Herr Rektor persönlich im Hause Giebenrath.
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Nachdem er den geschmeichelten Vater mit Höflichkeit losgeworden war,
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trat er in Hansens Stube und fand den Knaben am Evangelium Lucä sitzen.
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Er begrüßte ihn freundlichst.
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»Das ist schön, Giebenrath, schon wieder fleißig! Aber warum zeigst du
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dich denn gar nicht mehr? Ich erwartete dich jeden Tag.«
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»Ich wäre schon gekommen,« entschuldigte sich Hans, »aber ich hätte
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Ihnen gern wenigstens einen schönen Fisch mitgebracht.«
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»Fisch? Was denn für einen Fisch?«
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»Nun, einen Karpfen oder so was.«
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»Ah so. Ja, angelst du denn wieder?«
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»Ja, nur ein bißchen. Der Vater hat's erlaubt.«
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»Hm. So. Macht's dir viel Vergnügen?«
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»Ja, schon.«
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»Schön, ganz schön, du hast dir ja deine Ferien wacker verdient. Da hast
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du wahrscheinlich jetzt wenig Lust, nebenher noch zu lernen?«
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»O doch, Herr Rektor, natürlich.«
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»Ich möchte dir aber nichts aufzwingen, wozu du nicht selber Lust hast.«
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»Freilich hab' ich Lust.«
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Der Rektor tat ein paar tiefe Atemzüge, strich sich den dünnen Bart und
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setzte sich auf einen Stuhl.
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»Sieh, Hans,« sagte er, »die Sache liegt so. Es ist eine alte Erfahrung,
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daß gerade auf ein sehr gutes Examen oft ein plötzlicher Rückschlag
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folgt. Im Seminar gilt es, sich in mehrere neue Fächer einzuarbeiten. Da
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kommt nun immer eine Anzahl von Schülern, die in den Ferien
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vorgearbeitet haben -- oft gerade solche, denen es im Examen weniger gut
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gegangen war. Die rücken dann plötzlich in die Höhe auf Kosten von
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solchen, die während der Vakanz auf ihren Lorbeeren ausgeruht haben.«
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Er seufzte wieder.
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»Hier in der Schule hast du es ja leicht gehabt, immer der Erste zu
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sein. Im Seminar findest du aber andere Kameraden, lauter begabte oder
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sehr fleißige Leute, die sich nicht so spielend überholen lassen. Du
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begreifst das?«
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»O ja.«
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»Nun wollte ich dir vorschlagen, in diesen Ferien ein wenig
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vorauszuarbeiten. Selbstverständlich mit Maß! Du hast jetzt das Recht
|
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und die Pflicht, dich tüchtig auszuruhen. Ich dachte, so eine Stunde
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oder zwei im Tag wären etwa das Richtige. Ohne das kommt man leicht aus
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dem Geleise und braucht nachher Wochen, bis man wieder flott im Zug ist.
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Was meinst du?«
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»Ich bin ganz bereit, Herr Rektor, wenn Sie so gütig sein wollen ....«
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»Gut. Nächst dem Hebräischen wird dir im Seminar namentlich Homer eine
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neue Welt erschließen. Du würdest ihn mit doppeltem Genuß und
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Verständnis lesen, wenn wir schon jetzt einen soliden Grund legten. Die
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Sprache Homers, der alte jonische Dialekt samt der homerischen Prosodie
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ist etwas ganz Eigentümliches, ganz etwas für sich, und erfordert Fleiß
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und Gründlichkeit, wenn man überhaupt zum rechten Genuß dieser
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Dichtungen kommen will.«
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Natürlich war Hans gerne bereit, auch in diese neue Welt einzudringen,
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und versprach, sein Bestes zu tun.
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Das dicke Ende kam aber nach. Der Rektor räusperte sich und fuhr
|
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freundlich fort: »Offen gestanden wäre es mir auch lieb, wenn du der
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Mathematik einige Stunden widmen wolltest. Du bist ja kein schlechter
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|
Rechner, doch war die Mathematik bisher immerhin nicht gerade deine
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Stärke. Im Seminar wirst du Algebra und Geometrie anfangen müssen, und
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da wäre es doch wohl angezeigt, ein paar vorbereitende Lektionen zu
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nehmen.«
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»Jawohl, Herr Rektor.«
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»Bei mir bist du immer willkommen, das weißt du schon. Mir ist es
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|
Ehrensache, etwas Tüchtiges aus dir werden zu sehen. Wegen der
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|
Mathematik aber müßtest du eben deinen Vater bitten, daß er dich beim
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|
Herrn Professor Privatstunden nehmen läßt. Vielleicht drei bis vier in
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der Woche.«
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»Jawohl, Herr Rektor.«
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||
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* * * * *
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Die Arbeit stand nun wieder in erfreulichster Blüte, und wenn Hans je
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||
|
und je doch wieder eine Stunde angelte oder spazierenlief, hatte er ein
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schlechtes Gewissen. Die gewohnte Badestunde hatte der aufopfernde
|
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Mathematiklehrer zu seinen Lektionen gewählt.
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Diese Algebrastunden konnte Hans bei allem Fleiße nicht vergnüglich
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finden. Es war doch bitter, mitten am heißen Nachmittag statt auf die
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Badwiese in die warme Stube des Professors zu gehen und in der
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staubigen, mückendurchsummten Luft mit müdem Kopf und trockener Stimme
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das ^a plus b^ und ^a minus b^ herzusagen. Es lag dann etwas Lähmendes
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und überaus Drückendes in der Luft, das an schlechten Tagen sich in
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Trostlosigkeit und Verzweiflung verwandeln konnte. Mit der Mathematik
|
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ging es ihm überhaupt merkwürdig. Er gehörte nicht zu den Schülern,
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denen sie verschlossen und unmöglich zu begreifen ist, er fand zuweilen
|
||
|
gute, ja elegante Lösungen und hatte dann seine Freude daran. Ihm gefiel
|
||
|
das an der Mathematik, daß es hier keine Irrungen und keinen Schwindel
|
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gab, keine Möglichkeit, vom Thema abzuirren und trügerische Nebengebiete
|
||
|
zu streifen. Aus demselben Grunde hatte er das Latein so gern, denn
|
||
|
diese Sprache ist klar, sicher, eindeutig und kennt fast gar keine
|
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|
Zweifel. Aber wenn beim Rechnen auch alle Resultate stimmten, es kam
|
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doch eigentlich nichts Rechtes dabei heraus. Die mathematischen Arbeiten
|
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und Lehrstunden kamen ihm vor wie das Wandern auf einer ebenen
|
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Landstraße; man kommt immer vorwärts, man versteht jeden Tag etwas, was
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man gestern noch nicht verstand, aber man kam nie auf einen Berg, wo
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sich plötzlich weite Aussichten auftaten.
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Etwas lebendiger ging es in den Stunden beim Rektor zu. Freilich
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verstand der Stadtpfarrer aus dem entarteten Griechisch des Neuen
|
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Testamentes immer noch etwas viel Anziehenderes und Prachtvolleres zu
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machen als jener aus der jugendfrischen Homerischen Sprache. Aber es war
|
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schließlich doch Homer, bei dem gleich hinter den ersten Schwierigkeiten
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auch schon Überraschungen und Genüsse hervorspringen und unwiderstehlich
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|
weiter verlocken. Oft saß Hans vor einem geheimnisvoll schön klingenden,
|
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|
schwer verständlichen Vers voll zitternder Ungeduld und Spannung und
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konnte nicht eilig genug im Wörterbuch die Schlüssel finden, die ihm den
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stillen, heiteren Garten eröffneten.
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Hausarbeit hatte er nun wieder genug, und manchen Abend saß er wieder,
|
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in irgendeine Aufgabe festgebissen, bis spät am Tisch. Vater Giebenrath
|
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sah diesen Fleiß mit Stolz. In seinem schwerfälligen Kopf lebte dunkel
|
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das Ideal so vieler beschränkter und unbedeutender Leute, aus seinem
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Stamme einen Zweig über sich hinaus in eine Höhe wachsen zu sehen, die
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|
er mit dumpfem Respekt verehrte.
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In der letzten Ferienwoche zeigten sich Rektor und Stadtpfarrer
|
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plötzlich wieder auffallend milde und besorgt. Sie schickten den Knaben
|
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spazieren, stellten ihre Lektionen ein und betonten, wie wichtig es sei,
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|
daß er frisch und erquickt die neue Laufbahn betrete.
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Ein paarmal kam Hans noch zum Angeln. Er hatte viel Kopfweh und saß ohne
|
||
|
rechte Aufmerksamkeit am Ufer des Flusses, der nun einen lichtblauen
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|
Frühherbsthimmel spiegelte. Es war ihm rätselhaft, weshalb er sich
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||
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eigentlich seinerzeit so auf die Sommervakanz gefreut hatte. Jetzt war
|
||
|
er eher froh, daß sie vorüber war und er ins Seminar kam, wo ein ganz
|
||
|
anderes Leben und Lernen beginnen würde. Da ihm nichts daran lag, fing
|
||
|
er auch fast gar keine Fische mehr, und als der Vater einmal einen Witz
|
||
|
darüber machte, angelte er nicht mehr und tat seine Schnüre wieder in
|
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|
den Mansardenkasten hinauf.
|
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|
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|
Erst in den letzten Tagen fiel ihm plötzlich ein, daß er wochenlang
|
||
|
nimmer beim Schuhmacher Flaig gewesen war. Auch jetzt mußte er sich dazu
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||
|
zwingen, ihn aufzusuchen. Es war Abend und der Meister saß am Fenster
|
||
|
seiner Wohnstube, ein kleines Kind auf jedem Knie. Trotz des offen
|
||
|
stehenden Fensters durchdrang der Geruch von Leder und Wichse die ganze
|
||
|
Wohnung. Befangen legte Hans seine Hand in die harte, breite Rechte des
|
||
|
Meisters.
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||
|
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||
|
»Nun, wie geht's denn?« fragte dieser. »Bist fleißig beim Stadtpfarrer
|
||
|
gewesen?«
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||
|
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|
»Ja, ich war jeden Tag dort und hab' viel gelernt.«
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||
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|
||
|
»Was denn?«
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||
|
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»Hauptsächlich Griechisch, aber auch allerlei sonst.«
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|
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|
»Und zu mir hast nimmer kommen mögen?«
|
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|
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»Mögen schon, Herr Flaig, aber 's hat nie dazu kommen wollen. Beim
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||
|
Stadtpfarrer jeden Tag eine Stunde, beim Rektor jeden Tag zwei Stunden,
|
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|
und viermal in der Woche mußte ich zum Rechenlehrer.«
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|
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»Jetzt in den Ferien? Das ist ein Unsinn!«
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|
»Ich weiß nicht. Die Lehrer meinten so. Und das Lernen fällt mir ja
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||
|
nicht schwer.«
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||
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»Mag sein«, sagte Flaig und ergriff des Knaben Arm. »Mit dem Lernen
|
||
|
wär's schon recht, aber was hast du da für ein paar Ärmlein? Und auch's
|
||
|
Gesicht ist so mager. Hast auch noch Kopfweh?«
|
||
|
|
||
|
»Hie und da.«
|
||
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|
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|
»'s ist ein Unsinn, Hans, und eine Sünde dazu. In deinem Alter muß man
|
||
|
ordentlich Luft und Bewegung und sein richtiges Ausruhen haben. Zu was
|
||
|
gibt man euch denn Ferien? Doch nicht zum Stubenhocken und Weiterlernen.
|
||
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Du bist ja lauter Haut und Knochen.«
|
||
|
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Hans lachte.
|
||
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|
»Na ja, du wirst dich schon durchbeißen. Aber was zuviel ist, ist
|
||
|
zuviel. Und mit den Lektionen beim Stadtpfarrer, wie ist's da gegangen?
|
||
|
Was hat er gesagt?«
|
||
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|
»Gesagt hat er vielerlei, aber gar nichts Schlimmes. Er weiß kolossal
|
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|
viel.«
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|
»Hat er nie despektierlich von der Bibel geredet?«
|
||
|
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»Nein, kein einziges Mal.«
|
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»Das ist gut. Denn das sage ich dir: Lieber zehnmal am Leibe verderben
|
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|
als Schaden nehmen an seiner Seele! Du willst später Pfarrer werden, das
|
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|
ist ein köstliches und schweres Amt, und es braucht andere Leute dazu,
|
||
|
als die meisten von euch jungen Menschen sind. Vielleicht bist du der
|
||
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rechte und wirst einmal ein Helfer und Lehrer der Seelen sein. Das
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||
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wünsche ich von Herzen und will darum beten.«
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||
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Er hatte sich erhoben und legte nun dem Knaben beide Hände fest auf die
|
||
|
Schultern.
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»Leb' wohl, Hans, und bleibe im Guten! Der Herr segne dich und behüte
|
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|
dich, Amen.«
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Die Feierlichkeit, das Beten und Hochdeutschreden war dem Knaben
|
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beklemmend und peinlich. Der Stadtpfarrer hatte beim Abschied nichts
|
||
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derart gemacht.
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||
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Mit Vorbereitungen und Abschiednehmen vergingen die paar Tage schnell
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||
|
und unruhig. Eine Kiste mit Bettzeug, Kleidern, Wäsche und Büchern war
|
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schon abgeschickt, nun wurde noch der Reisesack gepackt, und eines
|
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kühlen Morgens fuhren Vater und Sohn nach Maulbronn ab. Es war doch
|
||
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seltsam und bedrückend, die Heimat zu verlassen und aus dem Vaterhause
|
||
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weg in eine fremde Anstalt zu ziehen.
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||
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|
Drittes Kapitel
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Ganz im Nordwesten des Landes liegt zwischen waldigen Hügeln und kleinen
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stillen Seen das große Zisterzienserkloster Maulbronn. Weitläufig, fest
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und wohlerhalten stehen die schönen alten Bauten und wären ein
|
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verlockender Wohnsitz, denn sie sind prächtig, von innen und außen, und
|
||
|
sind in den Jahrhunderten mit ihrer ruhig schönen, grünen Umgebung edel
|
||
|
und innig zusammengewachsen. Wer das Kloster besuchen will, tritt durch
|
||
|
ein malerisches, die hohe Mauer öffnendes Tor auf einen weiten und sehr
|
||
|
stillen Platz. Ein Brunnen läuft dort, und es stehen alte ernste Bäume
|
||
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da und zu beiden Seiten alte steinerne und feste Häuser und im
|
||
|
Hintergrunde die Stirnseite der gewaltigen Hauptkirche mit einer
|
||
|
spätromanischen Vorhalle, Paradies genannt, von einer graziösen,
|
||
|
entzückenden Schönheit ohnegleichen. Auf dem mächtigen Dach der Kirche
|
||
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reitet ein nadelspitzes, humoristisches Türmchen, von dem man nicht
|
||
|
begreift, wie es eine Glocke tragen soll. Der unversehrte Kreuzgang,
|
||
|
selber ein schönes Werk, enthält als Kleinod eine köstliche
|
||
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Brunnenkapelle; das Herrenrefektorium mit kräftig edlem Kreuzgewölbe,
|
||
|
ein wundervoller Raum, weiter Oratorium, Parlatorium, Laienrefektorium,
|
||
|
Abtwohnung und zwei Kirchen schließen sich massig aneinander. Malerische
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Mauern, Erker, Tore, Gärtchen, eine Mühle, Wohnhäuser umkränzen
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behaglich und heiter die wuchtigen alten Bauwerke. Der weite Vorplatz
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liegt still und leer und spielt im Schlaf mit den Schatten seiner Bäume;
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||
|
nur in der Stunde nach Mittag kommt ein flüchtiges Scheinleben über ihn.
|
||
|
Dann tritt eine Schar junger Leute aus dem Kloster, verliert sich über
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die weite Fläche, bringt ein wenig Bewegung, Rufen, Gespräch und
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Gelächter mit, spielt etwa auch ein Ballspiel und verschwindet nach
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Ablauf der Stunde rasch und spurlos hinter den Mauern. Auf diesem Platz
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hat schon mancher sich gedacht, hier wäre der Ort für ein tüchtiges
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Stück Leben und Freude, hier müßte etwas Lebendiges, Beglückendes
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wachsen können, hier müßten reife und gute Menschen ihre freudigen
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Gedanken denken und schöne, heitere Werke schaffen.
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In liebevoller Fürsorge hat die Regierung dies herrliche, weltfern
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gelegene, hinter Hügeln und Wäldern verborgene Kloster den Schülern des
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protestantisch-theologischen Seminars eingeräumt, damit Schönheit und
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Ruhe die empfänglichen jungen Gemüter umgebe. Zugleich sind dort die
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jungen Leute den zerstreuenden Einflüssen der Städte und des
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Familienlebens entzogen und bleiben vor dem schädigenden Anblick des
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tätigen Lebens bewahrt. Es wird dadurch ermöglicht, den Jünglingen
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jahrelang das Studium der hebräischen und griechischen Sprache samt
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Nebenfächern allen Ernstes als Lebenziel erscheinen zu lassen, den
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ganzen Durst der jungen Seelen reinen und idealen Studien und Genüssen
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zuzuwenden. Dazu kommt als wichtiger Faktor das Internatsleben, die
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Nötigung zur Selbsterziehung, das Gefühl der Zusammengehörigkeit. Die
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Regierung, auf deren Kosten die Seminaristen leben und studieren dürfen,
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hat hierdurch dafür gesorgt, daß ihre Zöglinge eines besonderen Geistes
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Kinder werden, an welchem sie später jederzeit erkannt werden können --
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eine feine und sichere Art der Brandmarkung und ein sinniges Symbol der
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freiwilligen Leibeigenschaft. Mit Ausnahme der Wildlinge, die sich je
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und je einmal losreißen, kann man denn auch jeden schwäbischen
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Seminaristen sein Leben lang als solchen erkennen. Wie verschieden sind
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die Menschen und wie verschieden die Umgebungen und Verhältnisse, in
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denen sie aufwachsen! Das gleicht die Regierung bei ihren Schützlingen
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gerecht und gründlich aus, durch eine Art von geistiger Uniform oder
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Livree.
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Wer beim Eintritt ins Klosterseminar noch eine Mutter gehabt hat, der
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denkt zeitlebens an jene Tage mit Dankbarkeit und lächelnder Rührung.
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Hans Giebenrath war nicht in diesem Fall und kam ohne alle Rührung
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darüber hinweg, aber er konnte doch eine große Zahl von fremden Müttern
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beobachten und hatte einen sonderbaren Eindruck davon.
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In den großen, mit Wandschränken eingefaßten Korridoren, den sogenannten
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Dormenten, standen Kisten und Körbe umher, und die von ihren Eltern
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begleiteten Knaben waren mit dem Auspacken und Einräumen ihrer
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Siebensachen beschäftigt. Jeder hatte seinen numerierten Schrank und in
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den Arbeitszimmern sein numeriertes Büchergestell angewiesen bekommen.
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Söhne und Eltern knieten auspackend am Boden, der Famulus wandelte wie
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ein Fürst zwischendurch und gab hie und da wohlmeinenden Rat. Es wurden
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ausgepackte Kleider ausgebreitet, Hemden gefaltet, Bücher aufgestapelt,
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Stiefel und Pantoffeln in Reihen gestellt. Die Ausrüstung war in den
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Hauptstücken bei allen dieselbe, denn die Mindestzahl der
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mitzubringenden Wäschestücke und das Wesentliche des übrigen Hausrats
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waren vorgeschrieben. Blecherne Waschbecken mit eingekratzten Namen
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kamen zum Vorschein und wurden im Waschsaal aufgestellt, Schwamm,
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Seifenschale, Kamm und Zahnbürsten daneben. Ferner hatte jeder eine
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Lampe, eine Erdölkanne und ein Tischbesteck mitgebracht.
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Die Knaben waren sämtlich überaus geschäftig und erregt. Die Väter
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lächelten, versuchten mitzuhelfen, sahen oft nach ihren Taschenuhren,
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hatten ziemlich Langeweile und machten Versuche, sich zu drücken. Die
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Seele der ganzen Tätigkeit waren aber die Mütter. Stück für Stück nahmen
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sie die Kleider und Wäsche zuhanden, strichen Falten hinweg, zogen
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Bänder zurecht und verteilten die Stücke mit sorgfältigem Ausprobieren
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möglichst sauber und praktisch im Schrank. Ermahnungen, Ratschläge und
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Zärtlichkeiten flossen mit ein.
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»Die neuen Hemden mußt du besonders schonen, sie haben drei Mark fünfzig
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gekostet.«
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»Die Wäsche schickst du alle vier Wochen per Bahn -- wenn's eilig ist,
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per Post. Der schwarze Hut ist nur für Sonntags.«
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Eine dicke, behagliche Frau saß auf einer hohen Kiste und lehrte ihren
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Sohn die Kunst, Knöpfe anzunähen.
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»Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderswo, »dann schreib mir nur immer.
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's ist ja nicht so schrecklich lang bis Weihnachten.«
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Eine hübsche, noch ziemlich junge Frau übersah den gefüllten Schrank
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ihres Söhnleins und fuhr mit liebkosender Hand über die Wäschehäufchen
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und Röcke und Hosen. Als sie damit fertig war, begann sie ihren Buben,
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einen breitschultrigen Pausback, zu streicheln. Er schämte sich und
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wehrte verlegen lachend ab und steckte auch noch, um ja nicht zärtlich
|
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auszusehen, beide Hände in die Hosentaschen. Der Abschied schien der
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Mutter schwerer zu fallen als ihm.
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Bei andern war es umgekehrt. Sie blickten ihre beschäftigten Mütter tat-
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und ratlos an und sahen aus, als möchten sie am liebsten wieder mit
|
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heimreisen. Bei allen aber lag die Furcht vor dem Abschied und das
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gesteigerte Gefühl der Zärtlichkeit und Anhänglichkeit in schwerem Kampf
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mit der Scheu vor Zuschauern und mit dem trotzigen Würdegefühl erster
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Männlichkeit. Mancher, der am liebsten geheult hätte, machte nun ein
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künstlich sorgloses Gesicht und tat so, als ginge nichts ihm nah. Und
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die Mütter lächelten dazu.
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Fast alle entnahmen ihren Kisten außer dem Notwendigsten auch noch
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einige Luxusstücke, ein Säcklein Äpfel, eine Rauchwurst, ein Körbchen
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Backwerk und dergleichen. Viele hatten Schlittschuhe mitgebracht.
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Kolossales Aufsehen erregte ein kleiner, pfiffig aussehender Jüngling
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durch den Besitz eines ganzen Schinkens, den er auch keineswegs zu
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verbergen trachtete.
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Man konnte leicht unterscheiden, welche von den Jungen direkt von Hause
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kamen und welche schon früher in Instituten und Pensionen gewesen waren.
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||
|
Aber auch diesen sah man die Aufregung und Spannung an.
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|
Herr Giebenrath half seinem Sohn beim Auspacken und benahm sich dabei
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klug und praktisch. Er war früher damit fertig als die meisten andern
|
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und stand eine Weile mit Hans gelangweilt und hilflos im Dorment herum.
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||
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Da er auf allen Seiten mahnende und belehrende Väter, tröstende und
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|
ratgebende Mütter und beklommen zuhörende Söhne erblickte, hielt auch er
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|
es für angemessen, seinem Hans einige goldene Worte mit auf den
|
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|
Lebensweg zu geben. Er überlegte lang und schlich gequält neben dem
|
||
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stummen Knaben einher, dann legte er plötzlich los und förderte eine
|
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|
kleine Blütenlese von weihevollen Redensarten zutage, die Hans
|
||
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verwundert und still entgegennahm, bis er einen danebenstehenden Pfarrer
|
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über die väterliche Rede belustigt lächeln sah; da schämte er sich und
|
||
|
zog den Redner beiseite.
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||
|
»Also nicht wahr, du wirst deiner Familie Ehre machen? Und deinen
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||
|
Vorgesetzten folgsam sein?«
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»Ja natürlich«, sagte Hans.
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Der Vater schwieg und atmete erleichtert auf. Es begann ihm elend
|
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|
langweilig zu werden. Auch Hans kam sich ziemlich verloren vor, schaute
|
||
|
bald mit beklommener Neugierde durch die Fenster in den stillen
|
||
|
Kreuzgang hinab, dessen altertümlich einsiedlerische Würde und Ruhe
|
||
|
sonderbar im Gegensatz zu dem oben lärmenden jungen Leben stand, bald
|
||
|
beobachtete er schüchtern die beschäftigten Kameraden, deren er noch
|
||
|
keinen kannte. Jener Stuttgarter Examensgenosse schien, trotz seinem
|
||
|
raffinierten Göppinger Latein, nicht bestanden zu haben, wenigstens sah
|
||
|
Hans ihn nirgends. Ohne sich viel dabei zu denken, betrachtete er seine
|
||
|
künftigen Mitschüler. So ähnlich an Art und Zahl die Ausrüstung
|
||
|
sämtlicher Knaben war, konnte man doch leicht die Städter von den
|
||
|
Bauernsöhnen und die Wohlhabenden von den Armen unterscheiden. Söhne
|
||
|
reicher Leute freilich kamen selten ins Seminar, was teils auf den Stolz
|
||
|
oder die tiefere Einsicht der Eltern, teils auf die Begabung der Kinder
|
||
|
schließen läßt; doch sendet immerhin mancher Professor und höhere Beamte
|
||
|
in Erinnerung an die eigenen Klosterjahre seinen Jungen nach Maulbronn.
|
||
|
So sah man denn unter den vierzig Schwarzröckchen mancherlei
|
||
|
Verschiedenheit an Tuch und Schnitt, und noch mehr unterschieden sich
|
||
|
die jungen Leute in Manieren, Dialekt und Haltung. Es gab hagere
|
||
|
Schwarzwälder mit steifen Gliedmaßen, saftige Albsöhne, strohblond und
|
||
|
breitmäulig, bewegliche Unterländer mit freien und heiteren Manieren,
|
||
|
feine Stuttgarter mit spitzen Stiefeln und einem verdorbenen, will sagen
|
||
|
verfeinerten Dialekt. Annähernd der fünfte Teil dieser Jugendblüte trug
|
||
|
Brillen. Einer, ein schmächtiges und fast elegantes Stuttgarter
|
||
|
Muttersöhnchen, war mit einem steifen feinen Filzhut bekleidet, benahm
|
||
|
sich vornehm und ahnte nicht, daß jene ungewohnte Zierde schon jetzt am
|
||
|
ersten Tage die Verwegenern unter den Kameraden auf spätere Hänseleien
|
||
|
und Gewalttaten lüstern machte.
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||
|
|
||
|
Ein feinerer Zuschauer konnte wohl erkennen, daß das zage Häuflein keine
|
||
|
schlechte Auswahl aus der Jugend des Landes vorstellte. Neben
|
||
|
Durchschnittsköpfen, denen man von weitem den Nürnberger Trichter
|
||
|
anmerkte, fehlte es weder an feinen noch an trotzig festen Burschen,
|
||
|
welchen hinter der glatten Stirne ein höheres Leben noch halb im Traume
|
||
|
liegen mochte. Vielleicht war der eine oder andere von jenen schlauen
|
||
|
und hartnäckigen Schwabenschädeln darunter, welche je und je im Lauf der
|
||
|
Zeiten sich mitten in die große Welt gedrängt und ihre stets etwas
|
||
|
trockenen und eigensinnigen Gedanken zum Mittelpunkt neuer, mächtiger
|
||
|
Systeme gemacht haben. Denn Schwaben versorgt sich und die Welt nicht
|
||
|
allein mit den wohlerzogensten Theologen, sondern verfügt auch mit Stolz
|
||
|
über eine traditionelle Fähigkeit zur philosophischen Spekulation,
|
||
|
welcher schon mehrmals ansehnliche Propheten oder auch Irrlehrer
|
||
|
entstammt sind. Und so übt das fruchtbare Land, dessen politisch große
|
||
|
Traditionen weit dahinten liegen und das sich nun als harmloses Küchlein
|
||
|
an den scharf geschnäbelten nördlichen Adler schmiegt, wenigstens auf
|
||
|
den geistigen Gebieten der Gottesgelehrtheit und Philosophie noch immer
|
||
|
seinen sichern Einfluß auf die Welt. Daneben steckt im Volke auch noch
|
||
|
von alters her eine Freude an schöner Form und träumerischer Poesie,
|
||
|
woraus von Zeit zu Zeit Reimer und Dichter hervorwachsen, die nicht zu
|
||
|
den schlechten gehören. Neuerdings gelten sie freilich wenig mehr, denn
|
||
|
auch in der Poesie haben unsere nördlicher wohnenden Herren Brüder die
|
||
|
Vorherrschaft übernommen, finden die südliche Sprache unfein und geben
|
||
|
mit ihren schärferen Zungen den Ton an, welcher bald auf Erdgeruch, bald
|
||
|
auf Berliner Eleganz gerichtet und unserer altmodischen Leier an
|
||
|
schneidigem Wesen allerdings weit überlegen ist. Leider geht es weder
|
||
|
hier noch anderwärts an, sich dagegen zu bäumen und jenen stolzen
|
||
|
Berlinern den noch sehr jungen Edelrost herunterzutun. Auch gönnen wir
|
||
|
gerne jedem das Seine: uns Schwaben unsern alten Staufen, wo über
|
||
|
stillen Wäldern die paar Reste uralter Herrlichkeit schlummern und
|
||
|
träumen, und den andern ihren Zollern, wo glatte, peinlich saubere
|
||
|
Fahrwege an blanken Kanonen vorüberführen. Es hat ja beides etwas für
|
||
|
sich.
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||
|
|
||
|
In den Einrichtungen und Sitten des Maulbronner Seminars war, äußerlich
|
||
|
betrachtet, nichts Schwäbisches zu spüren, vielmehr war neben den aus
|
||
|
Klosterzeiten übergebliebenen lateinischen Namen noch manche klassische
|
||
|
Etikette neuerdings aufgeklebt worden. Die Stuben, auf welche die
|
||
|
Zöglinge verteilt waren, hießen: Forum, Hellas, Athen, Sparta,
|
||
|
Akropolis, und daß die kleinste und letzte Germania hieß, schien fast
|
||
|
darauf zu deuten, daß man Gründe habe, aus der germanischen Gegenwart
|
||
|
nach Möglichkeit ein römisch-griechisches Traumbild zu machen. Doch war
|
||
|
auch dies wiederum nur äußerlich und in Wahrheit hätten hebräische Namen
|
||
|
besser gepaßt. So wollte denn auch der fröhliche Zufall, daß die Stube
|
||
|
Athen nicht etwa die weitherzigsten und beredtesten Leute, sondern
|
||
|
gerade ein paar rechtschaffene Langweiler zu Insassen bekam, und daß auf
|
||
|
Sparta nicht Kriegsmänner und Asketen, sondern eine Handvoll fideler und
|
||
|
üppiger Hospitanten wohnten. Hans Giebenrath war der Stube Hellas
|
||
|
zugeteilt, zusammen mit neun Kameraden.
|
||
|
|
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Es war ihm doch eigentümlich ums Herz, als er am Abend zum erstenmal mit
|
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den Neun zusammen den kühlen, kahlen Schlafsaal betrat und sich in seine
|
||
|
schmale Schülerbettstatt legte. Von der Decke hing eine große
|
||
|
Erdöllaterne herab, bei deren rotem Schein man sich entkleidete und die
|
||
|
ein Viertel nach zehn Uhr vom Famulus gelöscht wurde. Da lag nun einer
|
||
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neben dem andern, zwischen je zwei Betten stand ein Stühlchen mit den
|
||
|
Kleidern darauf, am Pfeiler hing der Strick herab, an dem die
|
||
|
Morgenglocke angezogen wird. Zwei oder drei von den Knaben kannten
|
||
|
einander schon und plauderten ein paar zaghafte Flüsterworte, die bald
|
||
|
verstummten; die andern waren einander fremd und jeder lag ein wenig
|
||
|
bedrückt und totenstill in seinem Bett. Die Eingeschlummerten ließen
|
||
|
tiefe Atemzüge hören, oder regte einer schlafend den Arm, daß die
|
||
|
leinene Decke rauschte; wer noch wachte, hielt sich ganz ruhig. Hans
|
||
|
konnte lange nicht einschlafen. Er horchte auf das Atmen seiner Nachbarn
|
||
|
und vernahm nach einer Weile ein seltsam ängstliches Geräusch vom
|
||
|
übernächsten Bette; dort lag einer und weinte, den Teppich über den Kopf
|
||
|
gezogen, und das leise, wie aus der Ferne hertönende Schluchzen regte
|
||
|
Hans wunderlich auf. Er selber hatte kein Heimweh, doch tat es ihm um
|
||
|
die stille kleine Kammer leid, die er zu Hause gehabt hatte; dazu kam
|
||
|
das zage Grauen vor dem ungewissen Neuen und vor den vielen Kameraden.
|
||
|
Es war noch nicht Mitternacht, da wachte keiner mehr im Saal.
|
||
|
Nebeneinander lagen die jungen Schläfer, die Wange ins gestreifte Kissen
|
||
|
gedrückt, traurige und trotzige, fidele und zaghafte, vom selben süßen,
|
||
|
festen Rasten und Vergessen übermannt. Über die alten spitzen Dächer,
|
||
|
Türme, Erker, Fialen, Mauerzinnen und spitzbogigen Galerien stieg ein
|
||
|
blasser halber Mond herauf; sein Licht lagerte sich an Gesimsen und
|
||
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Schwellen, floß über gotische Fenster und romanische Tore und zitterte
|
||
|
bleichgolden in der großen, edlen Schale des Kreuzgangbrunnens. Ein paar
|
||
|
gelbliche Streifen und Lichtflecke fielen auch durch die drei Fenster in
|
||
|
den Schlafsaal der Stube Hellas und wohnten neben den Träumen der
|
||
|
schlummernden Knaben so nachbarlich wie ehemals neben denen der
|
||
|
Mönchsgeschlechter.
|
||
|
|
||
|
Am folgenden Tage fand der feierliche Aufnahmeakt im Oratorium statt.
|
||
|
Die Lehrer standen in Gehröcken da, der Ephorus hielt eine Ansprache,
|
||
|
die Schüler saßen gedankenvoll gebückt in den Stühlen und versuchten
|
||
|
zuweilen rückwärts nach ihren weiter hinten sitzenden Eltern zu
|
||
|
schielen. Die Mütter schauten sinnend und lächelnd auf ihre Söhne, die
|
||
|
Väter hielten sich aufrecht, folgten der Rede und sahen ernst und
|
||
|
entschlossen aus. Stolze und löbliche Gefühle und schöne Hoffnungen
|
||
|
schwellten ihre Brust und kein einziger dachte daran, daß er heute sein
|
||
|
Kind gegen einen Geldvorteil an den Staat verkaufe. Zum Schluß wurde ein
|
||
|
Schüler um den andern mit Namen aufgerufen, trat vor die Reihen und ward
|
||
|
vom Ephorus mit einem Handschlag aufgenommen und verpflichtet und war
|
||
|
hiermit, falls er sich wohl verhielt, bis an sein Lebensende staatlich
|
||
|
versorgt und untergebracht. Daß sie das vielleicht nicht ganz umsonst
|
||
|
haben könnten, darüber dachte keiner nach, so wenig als die Väter.
|
||
|
|
||
|
Viel ernster und beweglicher kam ihnen der Augenblick vor, da sie von
|
||
|
Vater und Mutter Abschied nehmen mußten. Teils zu Fuß, teils im
|
||
|
Postwagen, teils in allerlei in der Eile erwischten Fahrzeugen
|
||
|
entschwanden diese dem Blick der zurückgelassenen Söhne, Tüchlein wehten
|
||
|
noch lange durch die milde Septemberluft, schließlich nahm der Wald die
|
||
|
Abreisenden auf, und die Söhne kehrten still und nachdenklich ins
|
||
|
Kloster zurück.
|
||
|
|
||
|
»So, jetzt sind die Herren Eltern abgereist«, sprach der Famulus.
|
||
|
|
||
|
Nun begann man einander anzusehen und kennen zu lernen, zunächst jede
|
||
|
Stube unter sich. Man füllte das Tintenfaß mit Tinte, die Lampe mit Öl,
|
||
|
ordnete Bücher und Hefte und versuchte, im neuen Raume heimisch zu
|
||
|
werden. Dabei schaute man einander neugierig an, begann ein Gespräch,
|
||
|
fragte einander um Heimatort und bisherige Schule und erinnerte sich an
|
||
|
das gemeinsam durchschwitzte Landexamen. Um einzelne Pulte bildeten sich
|
||
|
plaudernde Gruppen, da und dort wagte sich ein helles Knabengelächter
|
||
|
hervor, und am Abend waren die Stubengenossen schon viel besser
|
||
|
miteinander bekannt als Schiffspassagiere am Ende einer Seereise.
|
||
|
|
||
|
Unter den neun Kameraden, die mit Hans in der Stube Hellas wohnten,
|
||
|
waren vier dezidierte Charakterköpfe, der Rest gehörte mehr oder weniger
|
||
|
dem guten Durchschnitt an. Da war zunächst Otto Hartner, ein Stuttgarter
|
||
|
Professorensohn, begabt, ruhig, selbstsicher und im Benehmen tadellos.
|
||
|
Er war breit und stattlich gewachsen und gut gekleidet und imponierte
|
||
|
der Stube durch sein festes, tüchtiges Auftreten.
|
||
|
|
||
|
Dann Karl Hamel, der Sohn eines kleinen Dorfschulzen aus der Alb. Um ihn
|
||
|
kennen zu lernen, brauchte es schon einige Zeit, denn er stak voll von
|
||
|
Widersprüchen und rückte selten aus seinem scheinbaren Phlegma heraus.
|
||
|
Dann war er leidenschaftlich, ausgelassen und gewalttätig, doch dauerte
|
||
|
es nie lange, so kroch er in sich zurück und man wußte dann nicht, war
|
||
|
er ein stiller Beobachter oder nur ein Duckmäuser.
|
||
|
|
||
|
Eine auffallende, obwohl weniger komplizierte Erscheinung war Hermann
|
||
|
Heilner, ein Schwarzwälder aus gutem Hause. Man wußte schon am ersten
|
||
|
Tag, er sei ein Dichter und Schöngeist, und es ging die Sage, er habe
|
||
|
seinen Aufsatz im Landexamen in Hexametern abgefaßt. Er redete viel und
|
||
|
lebhaft, besaß eine schöne Violine und schien sein Wesen an der
|
||
|
Oberfläche zu tragen, das hauptsächlich aus einer jugendlich unreifen
|
||
|
Mischung von Sentimentalität und Leichtsinn bestand. Doch trug er
|
||
|
weniger sichtbar auch Tieferes in sich. Er war an Leib und Seele über
|
||
|
sein Alter entwickelt und begann schon versuchsweise eigene Bahnen zu
|
||
|
wandeln.
|
||
|
|
||
|
Der sonderbarste Hellasbewohner war aber Emil Lucius, ein verstecktes,
|
||
|
blaßblondes Männlein, zäh, fleißig und trocken wie ein greiser Bauer.
|
||
|
Trotz seiner unfertigen Statur und Züge machte er nicht den Eindruck
|
||
|
eines Knaben, sondern hatte überall etwas Erwachsenes an sich, als wäre
|
||
|
an ihm nun einmal nichts mehr zu ändern. Gleich am ersten Tage, während
|
||
|
die anderen sich langweilten, plauderten und sich einzugewöhnen suchten,
|
||
|
saß er still und gelassen über einer Grammatik, hatte die Ohren mit den
|
||
|
Daumen zugestopft und lernte drauf los, als gälte es, verlorene Jahre
|
||
|
einzuholen.
|
||
|
|
||
|
Diesem stillen Kauz kam man erst nach und nach auf seine Schliche und
|
||
|
fand in ihm einen so raffinierten Geizkragen und Egoisten, daß gerade
|
||
|
seine Vollkommenheit in diesen Lastern ihm eine Art von Achtung oder
|
||
|
wenigstens Duldung eintrug. Er hatte ein durchtriebenes Spar- und
|
||
|
Profitsystem, dessen einzelne Finessen nur allmählich zutage traten und
|
||
|
Staunen erregten. Es begann frühmorgens beim Aufstehen damit, daß Lucius
|
||
|
im Waschsaal entweder als Erster oder als Letzter eintrat, um das
|
||
|
Handtuch und womöglich auch die Seife eines anderen zu benützen und
|
||
|
seine eigenen Sachen zu schonen. So brachte er es zustande, daß sein
|
||
|
Handtuch stets für zwei und mehr Wochen vorhielt. Nun mußten aber die
|
||
|
Tücher alle acht Tage erneuert werden, und jeden Montag vormittag hielt
|
||
|
der Oberfamulus hierüber Kontrolle ab. Also hängte auch Lucius jeden
|
||
|
Montag früh ein frisches Tuch an seinen numerierten Nagel, holte es aber
|
||
|
in der Mittagspause wieder weg, faltete es sauber zusammen, tat es in
|
||
|
den Kasten zurück und hängte dafür das geschonte alte wieder auf. Seine
|
||
|
Seife war hart und gab wenig her, dafür hielt sie monatelang aus.
|
||
|
Deshalb war aber Emil Lucius keineswegs von vernachlässigtem Äußeren,
|
||
|
sondern sah stets proper aus, kämmte und scheitelte sein dünnes blondes
|
||
|
Haar mit Sorgfalt und schonte Wäsche und Kleidung aufs beste.
|
||
|
|
||
|
Vom Waschsaal ging es zum Frühstück. Dazu gab es eine Tasse Kaffee, ein
|
||
|
Stück Zucker und einen Wecken. Die meisten fanden das nicht üppig, denn
|
||
|
junge Leute haben nach achtstündigem Schlaf gewöhnlich einen tüchtigen
|
||
|
Morgenhunger. Lucius war zufrieden, sparte sich das tägliche Stück
|
||
|
Zucker am Mund ab und fand stets Abnehmer dafür, zwei Stück für einen
|
||
|
Pfennig oder fünfundzwanzig Stück für ein Schreibheft. Daß er des
|
||
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Abends, um das teure Öl zu sparen, gern beim Scheine fremder Lampen
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arbeitete, versteht sich von selber. Dabei war er nicht etwa ein Kind
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armer Eltern, sondern stammte aus ganz behaglichen Verhältnissen, wie
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denn überhaupt die Kinder gänzlich armer Leute selten zu wirtschaften
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und zu sparen verstehen, vielmehr stets so viel brauchen, als sie haben,
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und kein Zurücklegen kennen.
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Emil Lucius dehnte sein System aber nicht nur auf Sachbesitz und
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greifbare Güter aus, sondern suchte auch im Reich des Geistes, wo er
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konnte, seinen Vorteil herauszuschlagen. Hierbei war er so klug, nie zu
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vergessen, daß aller geistige Besitz nur von relativem Werte ist, darum
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wandte er wirklichen Fleiß nur an die Fächer, deren Bebauung in einem
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spätern Examen Früchte tragen konnte, und begnügte sich in den übrigen
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bescheiden mit einem mäßigen Durchschnittszeugnis. Was er lernte und
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leistete, maß er stets nur an den Leistungen der Mitschüler und er wäre
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lieber mit halben Kenntnissen Erster als mit doppelten Zweiter gewesen.
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Darum sah man ihn abends, wenn die Kameraden sich allerlei Zeitvertreib,
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Spiel und Lektüre hingaben, still an der Arbeit sitzen. Das Lärmen der
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andern störte ihn durchaus nicht, er warf sogar gelegentlich einen
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neidlos vergnügten Blick darauf. Denn wenn alle andern auch gearbeitet
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hätten, wäre seine Mühe ja nicht rentabel gewesen.
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Alle diese Schlauheiten und Kniffe nahm dem fleißigen Streber niemand
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übel. Aber wie alle Übertreiber und Allzuprofitlichen tat auch er bald
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einen Schritt ins Törichte. Da aller Unterricht im Kloster unentgeltlich
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war, kam er auf die Idee, dies zu benützen und sich Violinstunden geben
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zu lassen. Nicht daß er etwa einige Vorbildung, etwas Gehör und Talent
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oder auch nur irgendwelche Freude an der Musik gehabt hätte! Aber er
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dachte, man könne schließlich geigen lernen so gut wie Latein oder
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Rechnen. Die Musik war, wie er hatte sagen hören, im späteren Leben von
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Nutzen und machte ihren Mann beliebt und angenehm und jedenfalls kostete
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die Sache nichts, denn auch eine Schulgeige stellte das Seminar zur
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Verfügung.
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Dem Musiklehrer Haas standen die Haare zu Berg, als Lucius zu ihm kam
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und Violinstunden haben wollte, denn er kannte ihn von den Singstunden
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her, in welchen die Luciusschen Leistungen zwar alle Mitschüler hoch
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erfreuten, ihn aber, den Lehrer, zum Verzweifeln brachten. Er versuchte,
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dem Jungen die Sache auszureden; doch damit kam er hier an den
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Unrechten. Lucius lächelte fein und bescheiden, berief sich auf sein
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gutes Recht und erklärte seine Lust zur Musik für unbezwinglich. So
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bekam er denn die schlechteste der Übungsgeigen eingehändigt, erhielt
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wöchentlich zwei Lektionen und übte jeden Tag seine halbe Stunde. Nach
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der ersten Übestunde erklärten aber die Stubengenossen, dies sei das
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erste- und letztemal gewesen und sie verbäten sich das heillose Gestöhn.
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Von da an strich Lucius mit seiner Geige ruhelos durchs Kloster, stille
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Winkel zum Üben suchend, von wo dann kratzend, quietschend und winselnd
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sonderbare Töne hervordrangen und die Nachbarschaft beängstigten. Es
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war, sagte der Dichter Heilner, als flehe die gequälte alte Geige aus
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allen ihren Wurmstichen verzweifelt um Schonung. Da keine Fortschritte
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erfolgten, wurde der gepeinigte Lehrer nervös und grob, Lucius übte
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immer verzweifelter und sein bisher selbstzufriedenes Krämergesicht
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setzte bittere Sorgenfalten an. Es war die reine Tragödie, denn als am
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Ende der Lehrer ihn für völlig unfähig erklärte und sich weigerte, die
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Stunden fortzusetzen, wählte der betörte Lernlustige das Klavier und
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quälte sich auch damit lange, fruchtlose Monate hindurch, bis er mürb
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war und still verzichtete. In späteren Jahren dann aber, wenn von Musik
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die Rede war, ließ er etwa durchblicken, auch er habe ehedem sowohl
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Klavier wie Geige gelernt und sei nur durch die Verhältnisse diesen
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schönen Künsten leider allmählich entfremdet worden.
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So war die Stube Hellas häufig in der Lage, sich über ihre komischen
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Insassen zu amüsieren, denn auch der Schöngeist Heilner führte manche
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lächerliche Szene auf. Karl Hamel spielte den Ironiker und witzigen
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Beobachter. Er war um ein Jahr älter als die andern, das verlieh ihm
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eine gewisse Überlegenheit, doch brachte er es zu keiner geachteten
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Rolle; er war launisch und fühlte etwa alle acht Tage das Bedürfnis,
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seine Körperkraft in einer Rauferei zu erproben, wobei er dann wild und
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fast grausam war.
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Hans Giebenrath sah dem mit Erstaunen zu und ging seine stillen Wege vor
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sich hin als ein guter, aber ruhiger Kamerad. Er war fleißig, fast so
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fleißig wie Lucius, und genoß die Achtung seiner Stubenkumpane mit
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Ausnahme Heilners, der den genialen Leichtsinn auf seine Fahne
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geschrieben hatte und ihn gelegentlich als einen Streber verspottete. Im
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ganzen fanden sich alle die vielen, in der raschen Entwicklung ihrer
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Jahre stehenden Knaben wohl ineinander, wenn auch abendliche Raufhändel
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auf den Dormenten nichts Seltenes waren. Denn man war zwar mit Eifer
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bestrebt, sich erwachsen zu fühlen und das noch ungewohnte »Sie«-Sagen
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der Lehrer durch wissenschaftlichen Ernst und gutes Benehmen zu
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rechtfertigen, und man sah auf die eben verlassene Lateinschule
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mindestens so hochmütig und mitleidig zurück wie ein angehender Student
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aufs Gymnasium. Aber je und je brach durch die künstliche Würde doch
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eine unverfälschte Bubenhaftigkeit hervor und wollte ihr Recht haben.
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Dann widerklang das Dorment von saftigen Lufthieben und kräftig
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gesalzenen Knabenschimpfworten.
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* * * * *
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Für den Leiter oder Lehrer einer solchen Anstalt müßte es lehrreich und
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köstlich sein zu beobachten, wie nach den ersten Wochen des
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Zusammenlebens die Knabenschar einer sich setzenden chemischen Mischung
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gleicht, worin schwankende Wolken und Flocken sich ballen, wieder lösen
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und anders formen, bis eine Zahl von festen Gebilden da ist. Nach
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Überwindung der ersten Scheu und nachdem alle einander genügend kennen
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gelernt hatten, begann ein Wogen und Durcheinandersuchen, Gruppen traten
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zusammen, Freundschaften und Antipathien traten zutage. Selten schlossen
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sich Landsleute und frühere Schulkameraden zusammen, die meisten wandten
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sich neuen Bekannten zu, Städter zu Bauernsöhnen, Älbler zu
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Unterländern, nach einem geheimen Trieb zum Mannigfaltigen und zur
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Ergänzung. Die jungen Wesen tasteten unschlüssig nacheinander, neben das
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Bewußtsein der Gleichheit trat das Verlangen nach Absonderung, und in
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manchem von den Knaben erwachte hierbei zum erstenmal die keimende
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Bildung einer Persönlichkeit aus dem Kindesschlummer. Unbeschreibliche
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kleine Szenen der Zuneigung und der Eifersucht spielten sich ab,
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gediehen zu Freundschaftsbündnissen und zu erklärten, trotzigen
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Feindschaften und endeten, je nachdem, mit zärtlichen Verhältnissen und
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Freundesspaziergängen oder mit scharfen Ring- und Faustkämpfen.
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Hans hatte an diesem Treiben äußerlich keinen Anteil. Karl Hamel hatte
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ihm deutlich und stürmisch seine Freundschaft angetragen, da war er
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erschrocken zurückgewichen. Gleich darauf hatte sich Hamel mit einem
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Bewohner Spartas befreundet; Hans war allein geblieben. Ein starkes
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Gefühl ließ ihm das Land der Freundschaft selig in sehnsüchtigen Farben
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am Horizont erscheinen und zog ihn mit stillem Trieb hinüber. Aber eine
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Schüchternheit hielt ihn zurück. Ihm war in seinen strengen, mutterlosen
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Knabenjahren die Gabe des Anschmiegens verkümmert, und vor allem
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äußerlich Enthusiastischen hatte er ein Grauen. Dazu kam der Knabenstolz
|
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und schließlich der leidige Ehrgeiz. Er war nicht wie Lucius, ihm war es
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wirklich um Erkenntnis zu tun, aber gleich jenem suchte er sich alles
|
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fernzuhalten, was ihn der Arbeit entziehen konnte. So blieb er fleißig
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am Pult verharren, litt aber Neid und Sehnsucht, wenn er andere sich
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ihrer Freundschaft freuen sah. Karl Hamel war der Unrechte gewesen, aber
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wenn irgendein anderer gekommen wäre und ihn kräftig an sich zu ziehen
|
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versucht hätte, wäre er gerne gefolgt. Wie ein schüchternes Mädchen
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blieb er sitzen und wartete, ob einer käme, ihn zu holen, ein Stärkerer
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und Mutigerer als er, der ihn mitrisse und zum Glücklichsein zwänge.
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|
Da neben diesen Angelegenheiten der Unterricht, namentlich im
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Hebräischen, viel zu tun gab, verging die erste Zeit den Jünglingen sehr
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rasch. Die zahlreichen kleinen Seen und Teiche, von denen Maulbronn
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umgeben ist, spiegelten blasse Spätherbsthimmel, welkende Eschen, Birken
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und Eichen und lange Dämmerungen wider, durch die schönen Forste tobte
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stöhnend und frohlockend der vorwinterliche Kehraus, und schon mehrmals
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war ein leichter Reif gefallen.
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Der lyrische Hermann Heilner hatte vergebens einen kongenialen Freund zu
|
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erwerben gesucht, nun strich er täglich in der Ausgangsstunde einsam
|
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durch die Wälder und bevorzugte namentlich den Waldsee, einen
|
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melancholischen braunen Weiher, von Röhricht umfaßt und von alten,
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welkenden Laubkronen überhangen. Der traurigschöne Waldwinkel zog den
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Schwärmer mächtig an. Hier konnte er mit träumerischer Gerte im stillen
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Wasser Kreise ziehen, die Schilflieder Lenaus lesen und, in den niederen
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Strandbinsen liegend, über das herbstliche Thema vom Sterben und
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Vergehen sinnen, während Blätterfall und das Rauschen kahler Wipfel
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schwermütige Akkorde dazu gaben. Dann zog er häufig ein kleines
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schwarzes Schreibheftlein aus der Tasche, um mit Bleistift einen Vers
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oder zwei darein zu schreiben.
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Dies tat er auch in einer halbhellen Mittagstunde spät im Oktober, als
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Hans Giebenrath, allein spazieren gehend, denselben Ort betrat. Er sah
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den Dichterjüngling auf dem Brettersteg der kleinen Stellfalle sitzen,
|
||
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sein Heftlein im Schoß und den gespitzten Bleistift nachdenklich in den
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Mund gesteckt. Ein Buch lag aufgeschlagen daneben. Langsam trat er ihm
|
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|
näher.
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|
»Grüß Gott, Heilner. Was treibst du?«
|
||
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|
»Homerlesen. Und du, Giebenräthchen?«
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»Glaub' ich nicht. Ich weiß schon, was du machst.«
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»So?«
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»Natürlich. Gedichtet hast du.«
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»Meinst du?«
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»Freilich.«
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»Sitz' daher!«
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Giebenrath setzte sich neben Heilner auf das Brett, ließ die Beine überm
|
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|
Wasser baumeln und sah zu, wie da und dort ein braunes Blatt und wieder
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||
|
eines durch die stille kühle Luft sich herabdrehte und ungehört auf den
|
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|
bräunlichen Wasserspiegel sank.
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||
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|
»Hier ist's trist«, sagte Hans.
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|
»Ja, ja.«
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|
Beide hatten sich der Länge nach auf den Rücken gelegt, so daß ihnen von
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|
der herbstlichen Umgebung kaum noch ein paar überhängende Wipfel
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sichtbar blieben und statt dessen der lichtblaue Himmel mit ruhig
|
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schwimmenden Wolkeninseln hervortrat.
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»Was für schöne Wolken!« sagte Hans, behaglich schauend.
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»Ja, Giebenräthchen,« seufzte Heilner, »wenn man doch so eine Wolke
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|
wäre!«
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»Was dann?«
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»Dann würden wir da droben segelfahren, über Wälder und Dörfer und
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Oberämter und Länder weg, wie schöne Schiffe. Hast du nie ein Schiff
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gesehen?«
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»Nein, Heilner. Aber du?«
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»O ja. Aber lieber Gott, du verstehst ja nichts von solchen Sachen. Wenn
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||
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du nur lernen und streben und büffeln kannst!«
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»Du hältst mich also für ein Kamel?«
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»Hab' ich nicht gesagt.«
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»So dumm, wie du glaubst, bin ich noch lang nicht. Aber erzähl' weiter
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von den Schiffen.«
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Heilner drehte sich um, wobei er ums Haar ins Wasser gestürzt wäre. Er
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lag nun bäuchlings, das Kinn in beide Hände gebohrt, mit aufgestützten
|
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Ellenbogen.
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»Auf dem Rhein«, fuhr er fort, »hab' ich solche Schiffe gesehen, in den
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Ferien. Einmal Sonntags, da war Musik auf dem Schiff, bei Nacht, und
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farbige Laternen. Die Lichter spiegelten sich im Wasser und wir fuhren
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mit Musik stromabwärts. Man trank Rheinwein, und die Mädchen hatten
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weiße Kleider an.«
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||
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Hans hörte zu und erwiderte nichts, aber er hatte die Augen geschlossen
|
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und sah das Schiff durch die Sommernacht fahren, mit Musik und roten
|
||
|
Lichtern und Mädchen in weißen Kleidern. Der andere fuhr fort: »Ja, das
|
||
|
war anders als jetzt. Wer weiß hier was von solchen Sachen? Lauter
|
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Langweiler, lauter Duckmäuser! Das schafft sich ab und schindet sich und
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weiß nichts Höheres als das hebräische Alphabet. Du bist ja auch nicht
|
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|
anders.«
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Hans schwieg. Dieser Heilner war doch ein sonderbarer Mensch. Ein
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|
Schwärmer, ein Dichter. Schon oft hatte er sich über ihn gewundert.
|
||
|
Heilner arbeitete, wie jeder wußte, herzlich wenig, und trotzdem wußte
|
||
|
er viel, verstand, gute Antworten zu geben, und verachtete doch auch
|
||
|
wieder diese Kenntnisse.
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||
|
|
||
|
»Da lesen wir Homer,« höhnte er weiter, »wie wenn die Odyssee ein
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|
Kochbuch wäre. Zwei Verse in der Stunde, und dann wird Wort für Wort
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||
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wiedergekäut und untersucht, bis es einem zum Ekel wird. Aber am Schluß
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der Stunde heißt es da jedesmal: Sie sehen, wie fein der Dichter das
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gewendet hat, Sie haben hier einen Blick in das Geheimnis des
|
||
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dichterischen Schaffens getan! Bloß so als Sauce um die Partikeln und
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Aoriste herum, damit man nicht ganz dran erstickt. Auf die Art kann mir
|
||
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der ganze Homer gestohlen werden. Überhaupt was geht uns eigentlich das
|
||
|
alte griechische Zeug an? Wenn einer von uns einmal probieren wollte,
|
||
|
ein bißchen griechisch zu leben, so würde er rausgeschmissen. Dabei
|
||
|
heißt unsere Stube Hellas! Der reine Hohn! Warum heißt sie nicht
|
||
|
»Papierkorb« oder »Sklavenkäfig« oder »Angströhre«? Das ganze klassische
|
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Zeug ist ja Schwindel.«
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||
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Er spuckte in die Luft.
|
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|
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»Du, hast du vorher Verse gemacht?« fragte nun Hans.
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||
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|
»Ja.«
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||
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|
»Über was?«
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|
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||
|
»Hier, über den See und über den Herbst.«
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||
|
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||
|
»Zeig' mir's!«
|
||
|
|
||
|
»Nein, es ist noch nicht fertig.«
|
||
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|
||
|
»Aber wenn's fertig ist?«
|
||
|
|
||
|
»Ja, meinetwegen.«
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||
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|
||
|
Die zwei erhoben sich und gingen langsam ins Kloster zurück.
|
||
|
|
||
|
»Da, hast du eigentlich schon gesehen, wie schön das ist?« sagte
|
||
|
Heilner, als sie am »Paradies« vorüberkamen, »Hallen, Bogenfenster,
|
||
|
Kreuzgänge, Refektorien, gotisch und romanisch, alles reich und
|
||
|
kunstvoll und Künstlerarbeit. Und für was der Zauber? Für drei Dutzend
|
||
|
arme Buben, die Pfarrer werden wollen. Der Staat hat's übrig.«
|
||
|
|
||
|
Hans mußte den ganzen Nachmittag über Heilner nachdenken. Was war das
|
||
|
für ein Mensch? Was Hans an Sorgen und Wünschen kannte, existierte für
|
||
|
jenen gar nicht. Er hatte eigene Gedanken und Worte, er lebte wärmer und
|
||
|
freier, litt seltsame Leiden und schien seine ganze Umgebung zu
|
||
|
verachten. Er verstand die Schönheit der alten Säulen und Mauern. Und er
|
||
|
trieb die geheimnisvolle, sonderbare Kunst, seine Seele in Versen zu
|
||
|
spiegeln und sich ein eigenes, scheinlebendiges Leben aus der Phantasie
|
||
|
zu erbauen. Er war beweglich und unbändig und machte täglich mehr Witze
|
||
|
als Hans in einem Jahr. Er war schwermütig und schien seine eigene
|
||
|
Traurigkeit wie eine fremde, ungewöhnliche und köstliche Sache zu
|
||
|
genießen.
|
||
|
|
||
|
Noch am Abend dieses Tages gab Heilner der ganzen Stube eine Probe
|
||
|
seines scheckigen und auffallenden Wesens. Einer der Kameraden, ein
|
||
|
Maulheld und kleiner Geist namens Otto Wenger, fing Streit mit ihm an.
|
||
|
Eine Weile blieb Heilner ruhig, witzig und überlegen, dann ließ er sich
|
||
|
zum Austeilen einer Ohrfeige hinreißen, und alsbald waren beide Gegner
|
||
|
leidenschaftlich und unlöslich ineinander verknäuelt und verbissen und
|
||
|
trieben wie ein steuerloses Schiff in Stößen und Halbkreisen und
|
||
|
Zuckungen durch Hellas, an den Wänden hin, über Stühle weg, auf dem
|
||
|
Boden, beide wortlos, keuchend, sprudelnd und schäumend. Die Kameraden
|
||
|
standen mit kritischen Gesichtern beobachtend dabei, wichen dem Knäuel
|
||
|
aus, retteten ihre Beine, Pulte und Lampen und warteten in froher
|
||
|
Spannung den Ausgang ab. Nach einigen Minuten erhob sich Heilner mühsam,
|
||
|
machte sich los und blieb atmend stehen. Er sah zerschunden aus, hatte
|
||
|
rote Augen, einen zerrissenen Hemdkragen und ein Loch im Hosenknie. Sein
|
||
|
Gegner wollte ihn aufs neue anfallen, er stand aber mit verschränkten
|
||
|
Armen da und sagte hochmütig: »Ich mache nicht weiter -- wenn du willst,
|
||
|
so schlag' zu.« Otto Wenger ging schimpfend weg. Heilner lehnte sich an
|
||
|
sein Pult, drehte an der Stehlampe, steckte die Hände in die
|
||
|
Hosentaschen und schien sich auf irgend etwas besinnen zu wollen.
|
||
|
Plötzlich brachen ihm Tränen aus den Augen, eine um die andere und immer
|
||
|
mehr. Das war unerhört, denn Weinen galt ohne Zweifel für das
|
||
|
Allerschimpflichste, was ein Seminarist tun konnte. Und er tat gar
|
||
|
nichts, es zu verbergen. Er verließ die Stube nicht, er blieb ruhig
|
||
|
stehen, das blaß gewordene Gesicht der Lampe zugewendet; er wischte die
|
||
|
Tränen nicht ab und nahm nicht einmal die Hände aus den Taschen. Die
|
||
|
andern standen um ihn herum, neugierig und boshaft zuschauend, bis
|
||
|
Hartner sich vor ihn hinstellte und ihm sagte: »Du, Heilner, schämst du
|
||
|
dich denn nicht?«
|
||
|
|
||
|
Der Weinende blickte langsam um sich, wie einer, der eben aus einem
|
||
|
tiefen Schlaf erwacht.
|
||
|
|
||
|
»Mich schämen -- vor euch?« sagte er dann laut und verächtlich. »Nein,
|
||
|
mein Bester.«
|
||
|
|
||
|
Er wischte sich das Gesicht ab, lächelte ärgerlich, blies seine Lampe
|
||
|
aus und ging aus der Stube.
|
||
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|
||
|
Hans Giebenrath war während der ganzen Szene an seinem Platz geblieben
|
||
|
und hatte nur erstaunt und erschrocken zu Heilner hinübergeschielt. Eine
|
||
|
Viertelstunde später wagte er es, dem Verschwundenen nachzugehen. Er sah
|
||
|
ihn im dunkeln, frostigen Dorment auf einem der tiefen Fenstersimse
|
||
|
sitzen, regungslos, und in den Kreuzgang hinunterschauen. Von hinten
|
||
|
sahen seine Schultern und der schmale, scharfe Kopf eigentümlich ernst
|
||
|
und unknabenhaft aus. Er rührte sich nicht, als Hans zu ihm trat und am
|
||
|
Fenster stehenblieb, und erst nach einer Weile fragte er, ohne sein
|
||
|
Gesicht herüberzuwenden, mit heiserer Stimme: »Was gibt's?«
|
||
|
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||
|
»Ich bin's«, sagte Hans schüchtern.
|
||
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||
|
»Was willst du?«
|
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||
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»Nichts.«
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||
|
|
||
|
»So? Dann kannst du ja wieder gehen.«
|
||
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|
||
|
Hans war verletzt und wollte wirklich fortgehen. Da hielt Heilner ihn
|
||
|
zurück.
|
||
|
|
||
|
»Halt doch,« sagte er in einem künstlich scherzhaften Ton, »so war's
|
||
|
nicht gemeint.«
|
||
|
|
||
|
Beide sahen nun einander ins Gesicht, und wahrscheinlich sah jeder in
|
||
|
diesem Augenblick des andern Gesicht zum ersten Male ernstlich an und
|
||
|
versuchte sich vorzustellen, daß hinter diesen jünglinghaft glatten
|
||
|
Zügen ein besonderes Menschenleben mit seinen Eigenarten und eine
|
||
|
besondere, in ihrer Weise gezeichnete Seele wohne.
|
||
|
|
||
|
Langsam streckte Hermann Heilner seinen Arm aus, faßte Hans an der
|
||
|
Schulter und zog ihn zu sich her, bis ihre Gesichter einander ganz nahe
|
||
|
waren. Dann fühlte Hans plötzlich mit wunderlichem Schreck des andern
|
||
|
Lippen seinen Mund berühren.
|
||
|
|
||
|
Ihm schlug das Herz in einer ganz ungewohnten Beklemmung. Dies
|
||
|
Beisammensein im dunkeln Dorment und dieser plötzliche Kuß war etwas
|
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Abenteuerliches, Neues, vielleicht Gefährliches; es fiel ihm ein, wie
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entsetzlich es gewesen wäre, dabei ertappt zu werden, denn ein sicheres
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Gefühl ließ ihn wissen, daß dies Küssen den andern noch viel
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lächerlicher und schandbarer vorkommen würde als vorher das Weinen.
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Sagen konnte er nichts, aber das Blut stieg ihm mächtig zu Kopf, und er
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wäre am liebsten davongelaufen.
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Ein Erwachsener, welcher die kleine Szene gesehen hätte, hätte
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vielleicht seine stille Freude an ihr gehabt, an der unbeholfen scheuen
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Zärtlichkeit einer schamhaften Freundschaftserklärung und an den beiden
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ernsthaften, schmalen Knabengesichtern, welche beide hübsch und
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verheißungsvoll waren, halb noch der Kindesanmut teilhaftig und halb
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schon vom scheuen, schönen Trotz der Jünglingszeit überflogen.
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Allmählich hatte das junge Volk sich ins Zusammenleben gefunden. Man
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kannte einander, jeder hatte von jedem eine gewisse Kenntnis und
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Vorstellung, und eine Menge Freundschaften waren geschlossen. Es gab
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Freundespaare, welche miteinander hebräische Vokabeln lernten,
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Freundespaare, die zusammen zeichneten oder spazierengingen oder
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Schiller lasen. Es gab gute Lateiner und schlechte Rechner, die sich mit
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schlechten Lateinern und guten Rechnern zusammengetan hatten, um die
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Früchte genossenschaftlicher Arbeit zu genießen. Es gab auch
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Freundschaften, deren Fundament eine andere Art von Vertrag und
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Gütergemeinschaft bildete. So hatte der vielbeneidete Schinkenbesitzer
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seine ergänzende Hälfte an einem Gärtnerssohn aus Stammheim gefunden,
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der seinen Kastenboden voll schöner Äpfel liegen hatte. Er bat einst
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beim Schinkenessen, da er Durst bekam, jenen um einen Apfel und bot ihm
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dafür vom Schinken an. Sie setzten sich zusammen, ein vorsichtiges
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Gespräch brachte zutage, daß der Schinken, wenn er zu Ende wäre,
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sogleich ersetzt werden würde, und daß auch der Äpfelbesitzer bis weit
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ins Frühjahr hinein von den väterlichen Vorräten werde zehren können,
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und so kam ein solides Verhältnis zustande, das manches idealere und
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stürmischer geschlossene Bündnis lang überdauerte.
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Nur wenige waren Einspänner geblieben, unter ihnen Lucius, dessen
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habsüchtige Liebe zur Kunst damals noch in voller Blüte stand.
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Es gab auch ungleiche Paare. Für das ungleichste galten Hermann Heilner
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und Hans Giebenrath, der Leichtsinnige und der Gewissenhafte, der
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Dichter und der Streber. Man zählte zwar beide zu den Gescheiten und
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Begabtesten, aber Heilner genoß den halb spöttisch gemeinten Ruf eines
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Genies, während der andere im Geruch des Musterknaben stand. Doch ließ
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man sie ziemlich ungeschoren, da jeder von seiner eigenen Freundschaft
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in Anspruch genommen war und gern für sich blieb.
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Über diesen persönlichen Interessen und Erlebnissen kam aber die Schule
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doch nicht zu kurz. Sie war vielmehr der große Satz und Rhythmus, neben
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welchem Luciussens Musik, Heilners Dichterei samt allen Bündnissen,
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Händeln und gelegentlichen Raufereien nur tändelnd als unwesentliche
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Variationen und kleine Separatbelustigungen dahinliefen. Vor allem gab
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das Hebräische zu tun. Die seltsame, uralte Sprache Jehovas, ein
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spröder, verdorrter und doch noch geheimnisvoll lebendiger Baum, wuchs
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fremdartig, knorrig und rätselhaft vor den Augen der Jünglinge auf,
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durch wunderliche Verästungen auffallend und durch merkwürdig gefärbte
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und duftende Blüten überraschend. In seinen Zweigen, Höhlungen und
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Wurzeln hausten, schauerlich oder freundlich, tausendjährige Geister:
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phantastisch schreckhafte Drachen, naive liebliche Märchen, faltig
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ernste, trockene Greisenköpfe neben schönen Knaben und stilläugigen
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Mädchen oder streitbaren Frauen. Was in der behaglichen Lutherbibel fern
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und traumhaft geklungen hatte, von alttestamentlichen Nebeln mild
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umflort, das gewann nun in der rauhen, echten Sprache Blut und Stimme
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und ein veraltet schwerfälliges, aber zähes und unheimliches Leben. So
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erschien es wenigstens Heilner, der den ganzen Pentateuch täglich und
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stündlich verfluchte und doch mehr Leben und Seele in ihm fand und aus
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ihm sog als mancher geduldige Lerner, der alle Vokabeln wußte und keine
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Lesefehler mehr machte.
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Daneben das Neue Testament, wo es zarter, lichter und innerlicher zuging
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und dessen Sprache zwar weniger alt und tief und reich, aber feiner und
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von einem jungen, eifrigen und auch träumerischen Geist erfüllt war.
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Und die Odyssee, aus deren kräftig wohllautenden, stark und ebenmäßig
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dahinströmenden Versen gleich einem weißen runden Nixenarm die Kunde und
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Ahnung eines untergegangenen, formklaren und glücklichen Lebens
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emporstieg, bald fest und greifbar in irgendeinem kräftig umrissenen
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derben Zuge, bald nur als Traum und schöne Ahnung aus einigen Worten und
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Versen herausschimmernd.
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Hieneben verschwanden die Historiker Xenophon und Livius oder standen
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doch, als mindere Lichter, bescheiden und fast glanzlos beiseite.
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Hans bemerkte mit Erstaunen, wie für seinen Freund alle Dinge anders
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aussahen als für ihn. Für Heilner gab es nichts Abstraktes, nichts, was
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er sich nicht hätte vorstellen und mit Phantasiefarben bemalen können.
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Wo das nicht anging, ließ er alles mit Unlust liegen. Die Mathematik war
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ihm eine mit hinterlistigen Rätseln beladene Sphinx, deren kühler, böser
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Blick ihre Opfer bannte, und er wich dem Ungeheuer in großem Bogen aus.
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Die Freundschaft der beiden war ein sonderbares Verhältnis. Sie war für
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Heilner ein Vergnügen und Luxus, eine Bequemlichkeit oder auch eine
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Laune, für Hans aber war sie bald ein mit Stolz gehüteter Schatz, bald
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auch eine große, schwer zu tragende Last. Bisher hatte Hans die
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Abendstunden stets zur Arbeit benützt. Jetzt kam es fast alle Tage vor,
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daß Hermann, wenn er das Büffeln satt hatte, zu ihm herüberkam, ihm das
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Buch wegzog und ihn in Anspruch nahm. Schließlich zitterte Hans, so lieb
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der Freund ihm war, jeden Abend vor seinem Kommen und arbeitete in den
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obligatorischen Arbeitsstunden doppelt eifrig und eilig, um nichts zu
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versäumen. Noch peinlicher war es ihm, als Heilner auch theoretisch
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seinen Fleiß zu bekämpfen anfing.
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»Das ist Taglöhnerei,« hieß es, »du tust all die Arbeit ja doch nicht
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gern und freiwillig, sondern lediglich aus Angst vor den Lehrern oder
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vor deinem Alten. Was hast du davon, wenn du Erster oder Zweiter wirst?
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Ich bin Zwanzigster und darum doch nicht dümmer als ihr Streber.«
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Entsetzt war Hans auch, als er zum erstenmal sah, wie Heilner mit seinen
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Schulbüchern umging. Er hatte einmal seine Bücher im Hörsaal liegen
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lassen und entlehnte, da er sich auf die nächste Geographiestunde
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vorbereiten wollte, Heilners Atlas. Da sah er mit Grausen, daß jener
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ganze Blätter mit dem Bleistift verschmiert hatte. Die Westküste der
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Pyrenäischen Halbinsel war zu einem grotesken Profil ausgezogen, worin
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die Nase von Porto bis Lissabon reichte und die Gegend am Kap Finisterre
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zu einem gekräuselten Lockenschmuck stilisiert war, während das Kap St.
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Vincent die schön ausgedrehte Spitze eines Vollbartes bildete. So ging
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es von Blatt zu Blatt, auf die weißen Rückseiten der Karten waren
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Karikaturen gezeichnet und freche Ulkverse geschrieben, und an
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Tintenflecken fehlte es auch nicht. Hans war gewohnt, seine Bücher als
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Heiligtümer und Kleinodien zu behandeln und er empfand diese Kühnheiten
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halb als Tempelschändungen, halb als zwar verbrecherische, aber doch
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heroische Heldentaten.
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Es konnte scheinen, als wäre der gute Giebenrath für seinen Freund
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lediglich ein angenehmes Spielzeug, sagen wir, eine Art Hauskatze, und
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Hans selber fand das zuweilen. Aber Heilner hing doch an ihm, weil er
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ihn brauchte. Er mußte jemand haben, dem er sich anvertrauen konnte, der
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ihm zuhörte, der ihn bewunderte. Er brauchte einen, der still und
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lüstern zuhörte, wenn er seine revolutionären Reden über Schule und
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Leben hielt. Und er brauchte auch einen, der ihn tröstete und dem er den
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Kopf in den Schoß legen durfte, wenn er melancholische Stunden hatte.
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Wie alle solchen Naturen litt der junge Dichter an Anfällen einer
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grundlosen, ein wenig koketten Schwermut, deren Ursachen teils das leise
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Abschiednehmen der Kindesseele, teils der noch ziellose Überfluß der
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Kräfte, Ahnungen und Begierden, teils das unverstandene dunkle Drängen
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des Mannbarwerdens sind. Dann hatte er ein krankhaftes Bedürfnis,
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bemitleidet und gehätschelt zu werden. Früher war er ein Mutterliebling
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gewesen, und jetzt, solange er noch nicht zur Frauenliebe reif war,
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diente ihm der gefügige Freund als Tröster.
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Oft kam er abends todunglücklich zu Hans, entführte ihn seiner Arbeit
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und forderte ihn auf, mit ihm ins Dorment hinauszugehen. Dort in der
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kalten Halle oder im hohen, dämmernden Oratorium gingen sie
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nebeneinander auf und ab oder setzten sich fröstelnd in ein Fenster.
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Heilner gab dann allerlei jammervolle Klagen von sich, nach Art von
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lyrischen und Heinelesenden Jünglingen, und war in die Wolken einer
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etwas kindischen Traurigkeit gehüllt, welche Hans zwar nicht recht
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verstehen konnte, die ihm aber doch Eindruck machte und ihn sogar
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zuweilen ansteckte. Der empfindliche Schöngeist war namentlich bei
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trübem Wetter seinen Anfällen ausgesetzt und meistens erreichte der
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Jammer und das Gestöhne seinen Höhepunkt an Abenden, wo spätherbstliche
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Regenwolken den Himmel verdüsterten und hinter ihnen, durch trübe Flöre
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und Ritzen schauend, der sentimentale Mond seine Bahn beschrieb. Dann
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schwelgte er in Ossianischen Stimmungen und zerfloß in nebelhafter
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Wehmut, die sich in Seufzern, Reden und Versen über den unschuldigen
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Hans ergoß.
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Von diesen kläglichen Leidensszenen bedrückt und gepeinigt, stürzte sich
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dieser in den ihm übrigbleibenden Stunden mit hastigem Eifer in die
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Arbeit, die ihm doch immer schwerer fiel. Daß das alte Kopfweh
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wiederkam, wunderte ihn nicht weiter; aber daß er immer häufiger
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tatlose, müde Stunden hatte und sich stacheln mußte, um nur das
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Notwendige zu leisten, das machte ihm schwere Sorge. Zwar fühlte er
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dunkel, daß die Freundschaft mit dem Sonderling ihn erschöpfte und
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irgendeinen bisher unberührten Teil seines Wesens krank machte, aber je
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düsterer und weinerlicher jener war, desto mehr tat er ihm leid und
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desto zärtlicher und stolzer machte ihn das Bewußtsein, dem Freunde
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unentbehrlich zu sein.
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Zudem spürte er wohl, daß dieses kränkliche Wehmutwesen nur ein
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Ausstoßen überflüssiger und ungesunder Triebe war und eigentlich nicht
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in Heilners Wesen gehörte, den er treu und aufrichtig bewunderte. Wenn
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der Freund seine Verse vorlas oder von seinen Dichteridealen redete oder
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Monologe aus Schiller und Shakespeare mit Leidenschaft und großem
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Gebärdenspiel vortrug, war es für Hans, als wandle jener kraft einer ihm
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selber mangelnden Zaubergabe in den Lüften, bewege sich in einer
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göttlichen Freiheit und feurigen Leidenschaft und entschwebe ihm und
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seinesgleichen auf geflügelten Sohlen wie ein Homerischer Himmelsbote.
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Bis dahin war ihm die Welt der Dichter wenig bekannt und unwichtig
|
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gewesen, nun spürte er zum erstenmal widerstandslos die trügerische
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Gewalt schönfließender Worte, täuschender Bilder und schmeichlerischer
|
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Reime, und seine Verehrung für diese ihm neuerschlossene Welt war mit
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der Bewunderung des Freundes zu einem ungetrennten Gefühl
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ineinandergewachsen.
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* * * * *
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Unterdessen kamen stürmische, dunkle Novembertage, an denen man nur
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wenige Stunden ohne Lampe arbeiten konnte, und schwarze Nächte, in denen
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der Sturm große rollende Wolkenberge durch die finstern Höhen trieb und
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stöhnend oder zankend um die alten festen Klostergebäude stieß. Die
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Bäume waren nun völlig entlaubt; nur die mächtigen, knorrig verästeten
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Eichen, die Könige jener baumreichen Landschaft, rauschten noch mit
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welken Laubkronen lauter und mürrischer als alle anderen Bäume. Heilner
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war ganz trübsinnig und liebte es neuerdings, statt bei Hans zu sitzen,
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allein in einem entlegenen Übungszimmer auf der Geige zu stürmen oder
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mit den Kameraden Händel anzufangen.
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Eines Abends, da er jenes Zimmer aufsuchte, fand er den strebsamen
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Lucius dort vor einem Notenpult mit Üben beschäftigt. Ärgerlich ging er
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weg und kam nach einer halben Stunde wieder. Jener übte noch immer.
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»Du könntest jetzt aufhören«, schimpfte Heilner. »Es gibt auch noch
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andere Leute, die üben wollen. Deine Kratzerei ist ohnehin eine
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Landplage.«
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Lucius wollte nicht weichen, Heilner wurde grob, und als der andere sein
|
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Kratzen ruhig wiederaufnahm, stieß er ihm das Notengestell mit einem
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Fußtritt um, daß die Blätter ins Zimmer stoben und das Pult dem Geiger
|
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ins Gesicht schlug. Lucius bückte sich nach den Noten.
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»Das sag' ich dem Herrn Ephorus«, sagte er entschieden.
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»Gut,« schrie Heilner wütend, »so sag' ihm auch gleich, ich hätte dir
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einen Hundstritt gratis dreingegeben.« Und er wollte sogleich zur Tat
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schreiten.
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Lucius sprang fliehend beiseite und gewann die Tür. Sein Verfolger
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setzte ihm nach und es entstand ein hitziges und geräuschvolles Jagen
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durch Gänge und Säle, über Treppen und Flure bis in den fernsten Flügel
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des Klosters, wo in stiller Vornehmheit die Ephoruswohnung lag. Heilner
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erreichte den Flüchtling erst knapp vor der Studierzimmertüre des
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Ephorus und als jener schon angeklopft hatte und in der offenen Türe
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stand, erhielt er im letzten Augenblick noch den versprochenen Fußtritt
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und fuhr, ohne mehr die Tür hinter sich schließen zu können, wie eine
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Bombe ins Allerheiligste des Herrschers.
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Das war ein unerhörter Fall. Am nächsten Morgen hielt der Ephorus eine
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glänzende Rede über die Entartung der Jugend, Lucius hörte tiefsinnig
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und beifällig zu und Heilner bekam eine schwere Karzerstrafe diktiert.
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»Seit mehreren Jahren«, donnerte der Ephorus ihn an, »ist eine solche
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Strafe hier nicht mehr vorgekommen. Ich werde dafür sorgen, daß Sie noch
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in zehn Jahren daran denken sollen. Euch andern stelle ich diesen
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Heilner als abschreckendes Beispiel auf.«
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Die ganze Promotion schielte scheu zu ihm hinüber, der blaß und trotzig
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dastand und dem Blick des Ephorus nicht auswich. Im stillen bewunderten
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ihn viele, trotzdem blieb er am Ende der Lektion, als alles lärmend die
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Gänge erfüllte, allein und gemieden wie ein Aussätziger. Es gehörte Mut
|
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dazu, jetzt zu ihm zu stehen.
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Auch Hans Giebenrath tat es nicht. Es wäre seine Pflicht gewesen, das
|
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fühlte er wohl, und er litt am Gefühl seiner Feigheit. Unglücklich und
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schamhaft drückte er sich in ein Fenster und wagte nicht aufzublicken.
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Es trieb ihn, den Freund aufzusuchen und er hätte viel darum gegeben, es
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||
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unbemerkt tun zu können. Aber ein mit schwerem Karzer Bestrafter ist im
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||
|
Kloster für längere Zeit so gut wie gebrandmarkt. Man weiß, daß er von
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||
|
nun an besonders beobachtet wird und daß es gefährlich ist und einen
|
||
|
schlechten Ruf einträgt, mit ihm Verkehr zu haben. Den Wohltaten, welche
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||
|
der Staat seinen Zöglingen erweist, muß eine scharfe, strenge Zucht
|
||
|
entsprechen, das war schon in der großen Rede beim Eintrittsfeste
|
||
|
vorgekommen. Auch Hans wußte das. Und er unterlag im Kampf zwischen
|
||
|
Freundespflicht und Ehrgeiz. Sein Ideal war nun einmal, vorwärts zu
|
||
|
kommen, berühmte Examina zu machen und eine Rolle zu spielen, aber keine
|
||
|
romantische und gefährliche. So verharrte er ängstlich in seinem Winkel.
|
||
|
Noch konnte er hervortreten und tapfer sein, aber von Augenblick zu
|
||
|
Augenblick wurde es schwerer und eh' er sich's versah, war sein Verrat
|
||
|
zur Tat geworden. Heilner bemerkte es wohl. Der leidenschaftliche Knabe
|
||
|
fühlte, wie man ihm auswich, und begriff es, aber auf Hans hatte er sich
|
||
|
verlassen. Neben dem Weh und der Empörung, die er jetzt empfand, kamen
|
||
|
ihm selber seine bisherigen, inhaltlosen Jammergefühle leer und
|
||
|
lächerlich vor. Einen Augenblick blieb er neben Giebenrath stehen. Er
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||
|
sah blaß und hochmütig aus und sagte leise: »Du bist ein gemeiner
|
||
|
Feigling, Giebenrath -- pfui Teufel!« Und damit ging er weg, halblaut
|
||
|
pfeifend und die Hände in den Hosensäcken.
|
||
|
|
||
|
Es war gut, daß andere Gedanken und Beschäftigungen die jungen Leute in
|
||
|
Anspruch nahmen. Wenige Tage nach jenem Ereignis trat plötzlich
|
||
|
Schneefall, dann frostklares Winterwetter ein, man konnte schneeballen
|
||
|
und Schlittschuh laufen, und alle merkten nun auch plötzlich und
|
||
|
sprachen davon, daß Weihnachten und Ferien vor der Tür standen. Heilner
|
||
|
wurde weniger beachtet. Er ging still und trotzig mit aufrechtem Kopf
|
||
|
und hochmütigem Gesicht umher, sprach mit niemand und schrieb häufig
|
||
|
Verse in ein Schreibheft, das einen Umschlag von schwarzem Wachstuch
|
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|
hatte und die Aufschrift »Lieder eines Mönches« trug.
|
||
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|
An den Eichen, Erlen, Buchen und Weiden hing Reif und gefrorener Schnee
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in zarten, phantastischen Gebilden. Auf den Weihern knisterte im Frost
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das klare Eis. Der Kreuzganghof sah wie ein stiller Marmorgarten aus.
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||
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Eine frohe, festliche Erregung ging durch die Stuben und die
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||
|
weihnachtliche Vorfreude gab sogar den beiden tadellosen, gemessenen
|
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Professoren einen kleinen Glanz von Milde und heiterer Aufregung ab.
|
||
|
Unter Lehrern und Schülern war keiner, den Weihnachten gleichgültig
|
||
|
ließ, auch Heilner begann weniger verbissen und elend auszusehen und
|
||
|
Lucius überlegte, welche Bücher und welches Paar Schuhe er in die Ferien
|
||
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mitnehmen solle. In den von Hause kommenden Briefen standen schöne,
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||
|
ahnungsvolle Dinge: Fragen nach Lieblingswünschen, Berichte von
|
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Backtagen, Andeutung bevorstehender Überraschungen und Freude aufs
|
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Wiedersehen.
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||
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Vor der Ferienreise erlebte die Promotion und insbesondere die Stube
|
||
|
Hellas noch eine kleine heitere Geschichte. Es war beschlossen worden,
|
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|
die Lehrerschaft zu einer abendlichen Weihnachtsfeier einzuladen, welche
|
||
|
in Hellas, als der größten Stube, stattfinden sollte. Eine Festrede,
|
||
|
zwei Deklamationen, ein Flötensolo und ein Geigenduo waren vorbereitet.
|
||
|
Nun sollte aber durchaus auch noch eine humoristische Nummer aufs
|
||
|
Programm. Man beriet und verhandelte, machte und verwarf Vorschläge,
|
||
|
ohne einig zu werden. Da sagte Karl Hamel so nebenher, das Heiterste
|
||
|
wäre eigentlich ein Violinsolo von Emil Lucius. Das zog. Durch Bitten,
|
||
|
Versprechungen und Drohungen brachte man den unglücklichen Musikanten
|
||
|
dazu, daß er sich hergab. Und nun stand auf dem Programm, das mit einer
|
||
|
höflichen Einladung den Lehrern zugeschickt wurde, als besondere Nummer:
|
||
|
»Stille Nacht, Lied für Violine, vorgetragen von Emil Lucius,
|
||
|
Kammervirtuos«. Letzteren Titel verdankte er seinem fleißigen Üben in
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||
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jener abgelegenen Musikstube.
|
||
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Ephorus, Professoren, Repetenten, Musiklehrer und Oberfamulus waren
|
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eingeladen und erschienen zur Feier. Dem Musiklehrer trat der Schweiß
|
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|
auf die Stirne, als Lucius in einem von Hartner geborgten schwarzen Rock
|
||
|
mit Schößen auftrat, frisiert und gebügelt, mit seinem sanft
|
||
|
bescheidenen Lächeln. Schon seine Verbeugung wirkte wie eine
|
||
|
Aufforderung zur Heiterkeit. Aus dem Lied »Stille Nacht« wurde unter
|
||
|
seinen Fingern eine ergreifende Klage, ein stöhnendes, schmerzvolles
|
||
|
Lied des Leides; er begann zweimal, zerriß und zerhackte die Melodie,
|
||
|
trat den Takt mit dem Fuß und arbeitete wie ein Waldarbeiter bei
|
||
|
Frostwetter.
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||
|
Fröhlich nickte der Herr Ephorus dem Musiklehrer zu, der vor Entrüstung
|
||
|
blaß geworden war.
|
||
|
|
||
|
Als Lucius das Lied zum drittenmal begonnen hatte und auch diesmal
|
||
|
steckenblieb, ließ er die Geige sinken, wandte sich gegen die Zuhörer
|
||
|
und entschuldigte sich: »Es geht nicht. Aber ich tu' auch erst seit
|
||
|
letzten Herbst geigen.«
|
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|
»Es ist gut, Lucius,« rief der Ephorus, »wir danken Ihnen für Ihre
|
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|
Anstrengungen. Lernen Sie nur so weiter. ^Per aspera ad astra!^«
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Am 24. Dezember war von morgens drei Uhr an Leben und Getöse in allen
|
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Schlafsälen. An den Fenstern blühten dicke Lagen von feingeblätterten
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Eisblumen, das Waschwasser war eingefroren und über den Klosterhof
|
||
|
strich ein schneidend dünner Frostwind, doch kehrte sich niemand daran.
|
||
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Im Speisesaal dampften die großen Kaffeekübel und in dunklen Gruppen
|
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wanderten bald darauf die in Mäntel und Tücher verpackten Schüler über
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das weiße, schwach leuchtende Feld und durch die schweigende Waldung der
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weit entfernten Bahnstation entgegen. Alle plauderten, machten Witze und
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lachten laut und waren doch nebenher jeder voll seiner verschwiegenen
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Wünsche, Freuden und Erwartungen. Weit im ganzen Lande, in Städten und
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Dörfern und auf einsamen Höfen wußten sie in warmen, festgeschmückten
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Stuben Eltern und Brüder und Schwestern auf sich warten. Es war für die
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meisten von ihnen die erste Weihnacht, zu der sie aus der Ferne
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heimreisten und die meisten wußten, daß man sie mit Liebe und mit Stolz
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erwartete.
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Auf der kleinen Bahnstation, mitten im verschneiten Walde, wartete man
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in bitterer Kälte auf den Zug, und man war nie so einmütig, verträglich
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und lustig beisammen gewesen. Nur Heilner blieb allein und schweigend
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und als der Zug da war, wartete er das Einsteigen der Kameraden ab und
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ging dann allein in einen andern Wagen. Beim Umsteigen am nächsten
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Bahnhof sah Hans ihn noch einmal, doch ging das flüchtige Gefühl der
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Beschämung und Reue schnell wieder in der Aufregung und Freude der
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Heimreise unter.
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Zu Hause fand er den Papa schmunzelnd und zufrieden, und ein
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wohlbesetzter Gabentisch erwartete ihn. Ein richtiges Christfest gab es
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im Hause Giebenrath allerdings nicht. Es fehlte Gesang und
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Festbegeisterung, es fehlte eine Mutter, es fehlte ein Tannenbaum. Herr
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Giebenrath verstand die Kunst, Feste zu feiern, nicht. Aber er war stolz
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auf seinen Buben und hatte an den Geschenken diesmal nicht gespart. Und
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Hans war es nicht anders gewöhnt, er vermißte nichts.
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Man fand ihn schlecht aussehend, zu mager und zu blaß, und fragte ihn,
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ob denn im Kloster die Kost so schmal sei. Er verneinte eifrig und
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versicherte, es gehe ihm gut, nur habe er so oft Kopfweh. Hierüber
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tröstete ihn der Stadtpfarrer, der in jüngern Jahren selber daran
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gelitten hatte und somit war alles gut.
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Der Fluß war blank gefroren und an den Feiertagen voll von
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Schlittschuhläufern. Hans war fast den ganzen Tag draußen, in einem
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neuen Anzug, die grüne Seminaristenmütze auf dem Kopf, seinen ehemaligen
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Mitschülern weit in eine beneidete höhere Welt hinein entwachsen.
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Viertes Kapitel
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Erfahrungsgemäß pflegen sich aus jeder Seminaristenpromotion einer oder
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mehrere Kameraden im Laufe der vier Klosterjahre zu verlieren. Zuweilen
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stirbt einer weg und wird mit Gesang beerdigt oder mit Freundesgeleite
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in seine Heimat überführt. Zuweilen macht sich einer gewaltsam los oder
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wird besonderer Sünden wegen entfernt. Gelegentlich, doch selten und nur
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in der älteren Klasse, kommt es etwa auch einmal vor, daß irgendein
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ratloser Junge aus seinen Jugendnöten einen kurzen, dunkeln Ausweg durch
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einen Schuß oder durch den Sprung in ein Wasser findet.
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Auch der Promotion Hans Giebenraths sollten einige Kameraden verloren
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gehen und durch einen sonderbaren Zufall geschah es, daß diese alle der
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Stube Hellas angehörten.
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Unter ihren Bewohnern war ein bescheidenes blondes Männlein, namens
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Hindinger, mit Spitznamen Hindu genannt, Sohn eines Schneidermeisters
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irgendwo in der Allgäuer Diaspora. Er war ein ruhiger Bürger und machte
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erst durch seinen Weggang ein wenig von sich reden, doch auch da nicht
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zu viel. Als Pultnachbar des sparsamen Kammervirtuosen Lucius hatte er
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mit diesem freundlich und bescheidentlich ein wenig mehr als mit den
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andern Verkehr gehabt, sonst aber keine Freunde besessen. Erst als er
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fehlte, merkte man in Hellas, daß man ihn gern gehabt hatte als einen
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anspruchslosen, guten Nachbarn und als einen Ruhepunkt im oft erregten
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Leben der Stube.
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Er schloß sich eines Tages im Januar den Schlittschuhläufern an, die
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nach dem Roßweiher hinauszogen. Schlittschuhe besaß er nicht, sondern
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wollte nur einmal zusehen. Doch fror ihn bald und er stampfte ums Ufer
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herum, um sich zu erwärmen. Darüber kam er ins Laufen, verlor sich ein
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Stück weit über Feld und geriet an einen anderen kleinen See, der seiner
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wärmeren und stärkeren Quellen wegen nur schwach überfroren war. Er trat
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durchs Schilf hinüber. Dort brach er, so klein und leicht er war, nahe
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beim Ufer ein, wehrte sich und schrie noch eine kleine Weile und sank
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dann unbemerkt in die dunkle Kühle hinunter.
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Erst als um zwei Uhr die erste Nachmittagslektion begann, wurde sein
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Fehlen bemerkt.
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»Wo ist Hindinger?« rief der Repetent.
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Niemand gab Antwort.
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»Sehen Sie in Hellas nach!«
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Aber dort war keine Spur von ihm.
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»Er wird sich verspätet haben, lassen Sie uns ohne ihn beginnen. Wir
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stehen Seite 74, Vers sieben. Ich bitte mir aber aus, daß so etwas nicht
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wieder vorkommt. Sie haben pünktlich zu sein.«
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Als es drei Uhr schlug und Hindinger noch immer fehlte, bekam der Lehrer
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Angst und schickte zum Ephorus. Dieser erschien sogleich höchstselber im
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Lehrsaal, stellte ein großes Fragen an und schickte alsdann zehn Schüler
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unter Begleitung des Famulus und eines Repetenten auf die Suche. Den
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Zurückbleibenden wurde eine schriftliche Übung diktiert.
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Um vier Uhr trat der Repetent ohne anzuklopfen in den Hörsaal und
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erstattete dem Ephorus im Flüsterton Bericht.
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»Stille!« gebot der Ephorus, und die Schüler saßen regungslos in den
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Bänken und sahen ihn erwartungsvoll an.
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»Ihr Kamerad Hindinger«, fuhr er leise fort, »scheint in einem Weiher
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ertrunken zu sein. Sie müssen nun helfen, ihn zu suchen. Herr Professor
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Meyer wird Sie führen, Sie haben ihm pünktlich und wörtlich zu folgen
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und keinerlei eigenmächtige Schritte dabei zu tun.«
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Erschrocken und flüsternd brach man auf, den Professor an der Spitze.
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Vom Städtchen stießen ein paar Männer mit Seilen, Latten und Stangen zu
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dem eiligen Zuge. Es war bitter kalt und die Sonne stand schon am Rande
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der Wälder.
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Und als endlich der kleine steife Körper des Knaben gefunden war und in
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den verschneiten Binsen auf eine Trage gelegt wurde, war schon tiefe
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Dämmerung. Die Seminaristen standen wie scheue Vögel ängstlich umher,
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starrten auf die Leiche und rieben sich ihre blauen, steif gewordenen
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Finger. Und erst als der ertrunkene Kamerad vor ihnen hergetragen ward
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und sie ihm schweigend über die Schneefelder nachfolgten, wurden
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plötzlich ihre beklommenen Seelen von einem Schauder berührt und
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witterten den grimmen Tod wie Rehe den Feind.
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In dem kläglichen, frierenden Häuflein schritt Hans Giebenrath zufällig
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neben seinem gewesenen Freunde Heilner. Beide bemerkten die
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Nachbarschaft im gleichen Augenblick, da sie über dieselbe Unebenheit
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des Feldes gestolpert waren. Es mochte sein, daß der Anblick des Todes
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ihn überwältigt und für Augenblicke von der Nichtigkeit aller
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Selbstsucht überzeugt hatte, jedenfalls fühlte Hans, als er unvermutet
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des Freundes bleiches Gesicht so nahe erblickte, einen unerklärten
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tiefen Schmerz und griff in plötzlicher Regung nach des andern Hand.
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Heilner entzog sie ihm unwillig und blickte beleidigt beiseite, suchte
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auch sogleich einen andern Platz und verschwand in die hintersten Reihen
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des Zuges.
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Da schlug dem Musterknaben Hans das Herz in Weh und Scham und er konnte
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nicht hindern, daß ihm, während er auf dem gefrornen Felde stolpernd
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weiter marschierte, Träne um Träne über die frostblauen Backen lief. Er
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begriff, daß es Sünden und Versäumnisse gibt, die man nicht vergessen
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kann und die keine Reue gut macht, und es kam ihm vor, als liege nicht
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der kleine Schneiderssohn, sondern sein Freund Heilner vorn auf der
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erhöhten Bahre und nehme den Schmerz und Zorn über seine Untreue weit in
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|
eine andere Welt mit sich hinüber, wo man nicht nach Zeugnissen und
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Examen und Erfolgen rechnet, sondern allein nach der Reinheit oder
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Befleckung des Gewissens.
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Inzwischen war man auf die Landstraße gelangt und kam rasch vollends ins
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Kloster, wo alle Lehrer, den Ephorus an der Spitze, den toten Hindinger
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empfingen, der im Leben vor dem bloßen Gedanken an eine solche Ehre
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davongelaufen wäre. Einen toten Schüler blicken die Lehrer stets mit
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ganz andern Augen an, als einen lebenden, sie werden dann für einen
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Augenblick vom Wert und von der Unwiederbringlichkeit jedes Lebens und
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jeder Jugend überzeugt, an denen sie sich sonst so häufig sorglos
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versündigen.
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Auch am Abend und am ganzen folgenden Tage wirkte die Anwesenheit der
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unscheinbaren Leiche wie ein Zauber, milderte, dämpfte und umflorte
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alles Tun und Reden, so daß für diese kurze Zeit Hader, Zorn, Lärm und
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Lachen sich verbargen wie Nixen, die für Augenblicke von der Oberfläche
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eines Gewässers verschwinden und es regungslos und scheinbar unbelebt
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liegen lassen. Wenn zwei miteinander von dem Ertrunkenen sprachen, so
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nannten sie stets seinen vollen Namen, denn dem Toten gegenüber kam
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ihnen der Spitzname Hindu unwürdig vor. Und der stille Hindu, der sonst
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unbemerkt und unberufen in der Schar verschwunden war, erfüllte nun das
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ganze große Kloster mit seinem Namen und seinem Gestorbensein.
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Am zweiten Tage kam der Vater Hindinger an, blieb ein paar Stunden
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allein in dem Stüblein, wo sein Knabe lag, wurde dann vom Ephorus zum
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Tee eingeladen und übernachtete im Hirschen.
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Dann war das Begräbnis. Der Sarg stand im Dorment aufgestellt und der
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Allgäuer Schneider stand dabei und sah allem zu. Er war eine rechte
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Schneidersfigur, entsetzlich mager und spitzig, und trug einen grünlich
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spielenden schwarzen Bratenrock und enge dürftige Hosen, in der Hand
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einen veralteten Festhut aus der Zeit der Kübelschützen. Sein kleines,
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dünnes Gesicht sah bekümmert, traurig und schwächlich aus, wie ein
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Kreuzerlichtlein im Wind, und er war in einer fortwährenden Verlegenheit
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und Hochachtung vor dem Ephorus und den Herren Professoren.
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Im letzten Augenblick, ehe die Träger den Sarg aufnahmen, trat das
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traurige Männlein noch einmal vor und berührte den Sargdeckel mit einer
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verlegenen und schüchternen Gebärde der Zärtlichkeit. Dann blieb er
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hilflos stehen, mit den Tränen kämpfend, und stand mitten in dem großen,
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stillen Raum wie ein dürres Bäumlein im Winter, so verlassen und
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hoffnungslos und preisgegeben, daß es ein Jammer zu sehen war. Der
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Pfarrer nahm ihn an der Hand und blieb bei ihm, da setzte er seinen
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phantastisch geschweiften Zylinder auf und lief als Vorderster dem Sarge
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nach, die Treppe hinunter, über den Klosterhof, durchs alte Tor und
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übers weiße Land der niedern Kirchhofmauer entgegen. Während am Grabe
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die Seminaristen einen Choral sangen, blickten zum Verdruß des
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dirigierenden Musiklehrers die meisten nicht auf seine taktierende Hand,
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sondern auf die einsame, windige Gestalt des kleinen Schneidermeisters,
|
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welcher traurig und verfroren im Schnee stand und mit gesenktem Kopf die
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Reden des Geistlichen und des Ephorus und des Primus mit anhörte, den
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singenden Schülern gedankenlos zunickte und zuweilen mit der Linken nach
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dem im Rockschoß verborgenen Taschentuch angelte, ohne es aber
|
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herauszuziehen.
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»Ich hab' mir vorstellen müssen wie das wäre, wenn an seiner Stelle mein
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eigener Papa so dagestanden wäre«, sagte Otto Hartner nachher. Da
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stimmten alle ein: »Ja, ganz das gleiche hab' ich auch gedacht.«
|
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Später kam der Ephorus mit Hindingers Vater auf die Stube Hellas. »Ist
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einer von Ihnen mit dem Verstorbenen besonders befreundet gewesen?«
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fragte der Ephorus in die Stube hinein. Zuerst meldete sich niemand und
|
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Hindus Vater blickte ängstlich und elend in die jungen Gesichter. Dann
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kam aber Lucius hervor und Hindinger nahm seine Hand, hielt sie eine
|
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kleine Weile fest, wußte aber nichts zu sagen und ging bald mit einem
|
||
|
demütigen Kopfnicken wieder hinaus. Darauf reiste er ab und hatte einen
|
||
|
ganzen langen Tag durchs helle Winterland zu fahren, ehe er heimkam und
|
||
|
seiner Frau erzählen konnte, an was für einem Örtlein ihr Karl nun
|
||
|
liege.
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||
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* * * * *
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|
Im Kloster war der Bann bald wieder gebrochen. Die Lehrer schalten
|
||
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wieder, die Türen wurden wieder zugeschlagen und dem verschwundenen
|
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|
Hellenen wurde wenig nachgedacht. Einige hatten sich beim langen Stehen
|
||
|
an jenem traurigen Weiher erkältet und lagen auf der Krankenstube oder
|
||
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liefen mit Filzpantoffeln und verbundenen Hälsen herum. Hans Giebenrath
|
||
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war an Hals und Füßen unbeschädigt geblieben, sah aber seit dem
|
||
|
Unglückstage ernster und älter aus. Es war irgend etwas in ihm anders
|
||
|
geworden, ein Jüngling aus einem Knaben, und seine Seele war gleichsam
|
||
|
in ein anderes Land versetzt, wo sie ängstlich und unheimisch
|
||
|
umherflatterte und noch keine Rastplätze kannte. Daran war weder der
|
||
|
Todesschrecken noch die Trauer um den guten Hindu schuld, sondern
|
||
|
lediglich das plötzlich erwachte Bewußtsein seiner Schuld gegen Heilner.
|
||
|
|
||
|
Dieser lag mit zwei andern auf der Krankenstube, mußte heißen Tee
|
||
|
schlucken und hatte Zeit, seine beim Tode Hindingers empfangenen
|
||
|
Eindrücke zu ordnen und etwa zum spätern dichterischen Gebrauch zurecht
|
||
|
zu legen. Doch schien ihm daran wenig gelegen, er sah vielmehr elend und
|
||
|
leidend aus und wechselte mit seinen Krankheitsgenossen kaum ein Wort.
|
||
|
Die seit seiner Karzerstrafe ihm aufgezwungene Vereinsamung hatte sein
|
||
|
empfindliches und häufiger Mitteilung bedürftiges Gemüt verwundet und
|
||
|
bitter gemacht. Die Lehrer beaufsichtigten ihn als einen unzufriedenen
|
||
|
und revolutionären Kopf mit Strenge, die Schüler mieden ihn, der Famulus
|
||
|
behandelte ihn mit spöttischer Gutmütigkeit und seine Freunde
|
||
|
Shakespeare, Schiller und Lenau zeigten ihm eine andere, mächtigere und
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||
|
großartigere Welt als die war, die ihn drückend und demütigend umgab.
|
||
|
Aus seinen »Mönchsliedern«, welche anfangs nur auf einen einsiedlerisch
|
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|
schwermütigen Ton gestimmt gewesen waren, wurde allmählich eine Sammlung
|
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|
bitterer und gehässiger Verse auf Kloster, Lehrer und Mitschüler. Er
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||
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fand in seiner Vereinsamung einen sauren Märtyrergenuß, fühlte sich mit
|
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|
Genugtuung unverstanden und kam sich in seinen schonungslos
|
||
|
despektierlichen Mönchsversen vor wie ein kleiner Juvenal.
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Acht Tage nach dem Begräbnis, als die beiden Kameraden genesen waren und
|
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Heilner allein noch im Krankenzimmer lag, besuchte ihn Hans. Er grüßte
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|
schüchtern, trug einen Stuhl ans Bett, setzte sich und griff nach der
|
||
|
Hand des Kranken, der sich unwillig gegen die Wand kehrte und ganz
|
||
|
unzugänglich schien. Aber Hans ließ sich nicht abweisen. Er hielt die
|
||
|
ergriffene Hand fest und zwang seinen ehemaligen Freund, ihn anzusehen.
|
||
|
Dieser verzog ärgerlich die Lippen.
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»Was willst du eigentlich?«
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|
Hans ließ seine Hand nicht los.
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||
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||
|
»Du mußt mich anhören«, sagte er. »Ich bin damals feig gewesen und ließ
|
||
|
dich im Stich. Aber du weißt, wie ich bin: es war mein fester Vorsatz,
|
||
|
im Seminar obenan zu bleiben und womöglich vollends Erster zu werden. Du
|
||
|
hast das Streberei genannt, meinetwegen mit Recht; aber es war nun eben
|
||
|
meine Art von Ideal, ich wußte nichts Besseres.«
|
||
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||
|
Heilner hatte die Augen geschlossen und Hans fuhr ganz leise fort:
|
||
|
»Sieh' du, es tut mir leid. Ich weiß nicht, ob du noch einmal mein
|
||
|
Freund sein willst, aber verzeihen mußt du mir.«
|
||
|
|
||
|
Heilner schwieg und tat die Augen nicht auf. Alles Gute und Freudige in
|
||
|
ihm lachte dem Freund entgegen, doch hatte er sich nun an die Rolle des
|
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|
Herben und Einsamen gewöhnt und behielt wenigstens die Maske davon
|
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|
einstweilen vor dem Gesicht. Hans ließ nicht nach.
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||
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»Du mußt, Heilner! Ich will lieber Letzter werden, als noch länger so um
|
||
|
dich herumlaufen. Wenn du willst, so sind wir wieder Freunde und zeigen
|
||
|
den anderen, daß wir sie nicht brauchen.«
|
||
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||
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Da erwiderte Heilner den Druck seiner Hand und schlug die Augen auf.
|
||
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||
|
Nach einigen Tagen verließ auch er das Bett und die Krankenstube und es
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||
|
entstand im Kloster keine geringe Aufregung über die neugebackene
|
||
|
Freundschaft. Für die beiden aber kamen nun wunderliche Wochen, ohne
|
||
|
eigentliche Erlebnisse, aber voll eines seltsam beglückenden Gefühls der
|
||
|
Zusammengehörigkeit und eines wortelosen, heimlichen Einverständnisses.
|
||
|
Es war etwas anderes als früher. Die wochenlange Trennung hatte beide
|
||
|
verändert. Hans war zärtlicher, wärmer, schwärmerischer geworden;
|
||
|
Heilner hatte ein kraftvolleres, männlicheres Wesen angenommen, und
|
||
|
beide hatten einander in der letzten Zeit so sehr vermißt, daß ihnen
|
||
|
ihre Wiedervereinigung wie ein großes Erlebnis und köstliches Geschenk
|
||
|
vorkam.
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Beide frühreife Knaben kosteten in ihrer Freundschaft mit ahnungsvoller
|
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|
Scheu etwas von den zarten Geheimnissen einer ersten Liebe unwissend
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voraus. Dazu hatte ihr Bündnis den herben Reiz der reifenden
|
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|
Männlichkeit und als ebenso herbe Würze das Trotzgefühl gegen die
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||
|
Gesamtheit der Kameraden, denen Heilner unliebsam und Hans
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||
|
unverständlich blieb und deren zahlreiche Freundschaften damals alle
|
||
|
noch harmlose Knabenspielereien waren.
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|
Je inniger und glücklicher Hans an seiner Freundschaft hing, desto
|
||
|
fremder wurde ihm die Schule. Das neue Glücksgefühl ging brausend wie
|
||
|
ein junger Wein durch sein Blut und durch seine Gedanken, daneben verlor
|
||
|
Livius so gut wie Homer seine Wichtigkeit und seinen Glanz. Die Lehrer
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||
|
aber sahen mit Schrecken den bisherigen tadellosen Schüler Giebenrath in
|
||
|
ein problematisches Wesen verwandelt und dem schlimmen Einfluß des
|
||
|
verdächtigen Heilner unterlegen. Vor nichts graut Lehrern so sehr wie
|
||
|
vor den seltsamen Erscheinungen, die am Wesen früh entwickelter Knaben
|
||
|
in dem ohnehin gefährlichen Alter der beginnenden Jünglingsgärung
|
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hervortreten. An Heilner war ihnen ohnehin von jeher ein gewisses
|
||
|
Geniewesen unheimlich -- zwischen Genie und Lehrerzunft ist eben von
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||
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alters eine tiefe Kluft befestigt und was von solchen Leuten sich auf
|
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Schulen zeigt, ist den Professoren von vornherein ein Greuel. Für sie
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sind Genies jene Schlimmen, die keinen Respekt vor ihnen haben, die mit
|
||
|
vierzehn Jahren zu rauchen beginnen, mit fünfzehn sich verlieben, mit
|
||
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sechzehn in die Kneipen gehen, welche verbotene Bücher lesen, freche
|
||
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Aufsätze schreiben, den Lehrer gelegentlich höhnisch fixieren und im
|
||
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Diarium als Aufrührer und Karzerkandidaten fungieren. Ein Schulmeister
|
||
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hat lieber zehn notorische Esel als ein Genie in seiner Klasse, und
|
||
|
genau betrachtet hat er ja recht, denn seine Aufgabe ist es nicht,
|
||
|
extravagante Geister heranzubilden, sondern gute Lateiner, Rechner und
|
||
|
Biedermänner. Wer aber mehr und Schwereres von andern leidet, der Lehrer
|
||
|
vom Knaben oder umgekehrt, wer von beiden mehr Tyrann, mehr Quälgeist
|
||
|
ist und wer von beiden es ist, der dem anderen Teile seiner Seele und
|
||
|
seines Lebens verdirbt und schändet, das kann man nicht untersuchen,
|
||
|
ohne bitter zu werden und mit Zorn und Scham an die eigene Jugend zu
|
||
|
denken. Doch ist das nicht unsere Sache und wir haben den Trost, daß bei
|
||
|
den wirklich Genialen fast immer die Wunden gut vernarben und daß aus
|
||
|
ihnen Leute werden, die der Schule zu Trotz ihre guten Werke schaffen
|
||
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und welche später, wenn sie tot und vom angenehmen Nimbus der Ferne
|
||
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umflossen sind, anderen Generationen von ihren Schulmeistern als
|
||
|
Prachtstücke und edle Beispiele vorgeführt werden. Und so wiederholt
|
||
|
sich von Schule zu Schule das Schauspiel des Kampfes zwischen Gesetz und
|
||
|
Geist und immer wieder sehen wir Staat und Schule atemlos bemüht, die
|
||
|
alljährlich auftauchenden paar tieferen und wertvolleren Geister
|
||
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totzuschlagen und an der Wurzel zu knicken. Und immer wieder sind es vor
|
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|
allem die von den Schulmeistern Gehaßten, die Oftbestraften,
|
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Entlaufenen, Davongejagten, die nachher den Schatz unseres Volkes
|
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bereichern. Manche aber -- und wer weiß wie viele? -- verzehren sich in
|
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stillem Trotz und gehen unter.
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Nach gutem, altem Schulgrundsatz wurde auch gegen die beiden jungen
|
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Seltsamen, sobald man Unrat witterte, nicht die Liebe, sondern die Härte
|
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verdoppelt. Nur der Ephorus, der auf Hans als fleißigsten Hebräer stolz
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war, machte einen ungeschickten Rettungsversuch. Er ließ ihn auf sein
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Amtszimmer rufen, die schöne malerische Erkerstube der alten
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Abtswohnung, wo der Sage nach der im nahen Knittlingen heimische Doktor
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Faust manchen Becher Elfinger genossen hat. Der Ephorus war kein
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unebener Mann, es fehlte ihm nicht an Einsicht und praktischer Klugheit,
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er hatte sogar ein gewisses gutmütiges Wohlwollen gegen seine Zöglinge,
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die er mit Vorliebe duzte. Sein Hauptfehler war eine starke Eitelkeit,
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die ihn auf dem Katheder oft zu prahlerischen Kunststückchen verleitete
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und welche ihn nicht dulden ließ, seine Macht und Autorität nur im
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geringsten bezweifelt zu sehen. Er konnte keinen Einwurf vertragen,
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keinen Irrtum eingestehen. So kamen willenlose oder auch unredliche
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Schüler prächtig mit ihm aus, aber gerade die Kräftigen und Ehrlichen
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hatten es schwer, da schon ein nur angedeuteter Widerspruch ihn wild und
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ungerecht machte. Die Rolle des väterlichen Freundes mit aufmunterndem
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Blick und gerührtem Ton beherrschte er als Virtuos, und er spielte sie
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auch jetzt.
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»Nehmen Sie Platz, Giebenrath«, sprach er freundschaftlich, nachdem er
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dem schüchtern eingetretenen Jungen kräftig die Hand gedrückt hatte.
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»Ich möchte ein wenig mit Ihnen reden. Aber darf ich du sagen?«
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»Bitte, Herr Ephorus.«
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»Du wirst wohl selber gefühlt haben, lieber Giebenrath, daß deine
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Leistungen in letzter Zeit etwas nachgelassen haben, wenigstens im
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Hebräischen. Du warst bisher vielleicht unser bester Hebräer, darum tut
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es mir leid, eine plötzliche Abnahme zu bemerken. Vielleicht hast du am
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Hebräischen keine rechte Freude mehr?«
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»O doch, Herr Ephorus.«
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Ȇberlege dir's nur! So etwas kommt vor. Du hast dich vielleicht einem
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anderen Fach besonders zugewendet?«
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»Nein, Herr Ephorus.«
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»Wirklich nicht? Ja, dann müssen wir nach andern Ursachen suchen. Kannst
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du mir auf die Spur helfen?«
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»Ich weiß nicht ... ich habe meine Aufgaben immer gemacht ...«
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»Gewiß, mein Lieber, gewiß. Aber ^differendum est inter et inter^. Deine
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Aufgaben hast du natürlich gemacht, das war ja wohl auch deine Pflicht.
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Aber du hast früher mehr geleistet. Du warst vielleicht fleißiger, du
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warst jedenfalls mit mehr Interesse bei der Sache. Ich frage mich nun,
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woher dies plötzliche Nachlassen deines Eifers kommt. Du bist doch nicht
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krank?«
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»Nein.«
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»Oder hast du Kopfweh? Du siehst freilich nicht übermäßig blühend aus.«
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»Ja, Kopfweh habe ich manchmal.«
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»Ist dir die tägliche Arbeit zu viel?«
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»O nein, gar nicht.«
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»Oder treibst du viel Privatlektüre? Sei nur ehrlich!«
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»Nein, ich lese fast nichts, Herr Ephorus.«
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»Dann begreife ich das nicht recht, lieber junger Freund. Irgendwo muß
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es doch fehlen. Willst du mir versprechen, dir ordentlich Mühe zu
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geben?«
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Hans legte seine Hand in die ausgestreckte Rechte des Gewaltigen, der
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ihn mit ernster Milde anblickte.
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»So ist's gut, so ist's recht, mein Lieber. Nur nicht matt werden, sonst
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kommt man unters Rad.«
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Er drückte Hans die Hand und dieser ging aufatmend zur Türe. Da wurde er
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zurückgerufen.
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»Noch etwas, Giebenrath. Du hast viel Verkehr mit Heilner, nicht wahr?«
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»Ja, ziemlich viel.«
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»Mehr als mit andern, glaube ich. Oder nicht?«
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»Doch, ja. Er ist mein Freund.«
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»Wie kam denn das? Ihr seid doch eigentlich recht verschiedene Naturen.«
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»Ich weiß nicht, er ist nun eben mein Freund.«
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»Du weißt, daß ich deinen Freund nicht besonders liebe. Er ist ein
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unzufriedener, unruhiger Geist; begabt mag er sein, aber er leistet
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nichts und übt keinen guten Einfluß auf dich. Ich würde es sehr gerne
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sehen, wenn du dich ihm mehr fernhalten würdest. -- Nun?«
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»Das kann ich nicht, Herr Ephorus.«
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»Du kannst nicht? Ja warum denn?«
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»Weil er doch mein Freund ist. Ich kann ihn doch nicht einfach im Stich
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lassen.«
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»Hm. Aber du könntest dich doch etwas mehr an andere anschließen? Du
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bist der einzige, der sich dem schlechten Einfluß dieses Heilner so
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hingibt, und die Folgen sehen wir ja schon. Was fesselt dich denn gerade
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an ihn besonders?«
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»Ich weiß selber nicht. Aber wir haben einander gern und es wäre feig
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von mir, ihn zu verlassen.«
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»So so. Na, ich zwinge dich nicht. Aber ich hoffe, du kommst allmählich
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von ihm los. Es wäre mir lieb. Es wäre mir sehr lieb.«
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Die letzten Worte hatten nichts mehr von der vorigen Milde. Hans konnte
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nun gehen.
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Von da an plagte er sich aufs neue mit der Arbeit. Es war allerdings
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nicht mehr das frühere flotte Vorwärtskommen, sondern mehr ein
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mühseliges Mitlaufen, um wenigstens nicht zu weit zurückzubleiben. Auch
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er wußte, daß das zum Teil von seiner Freundschaft herrührte, doch sah
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er in dieser nicht einen Verlust und ein Hemmnis, vielmehr einen Schatz,
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der alles Versäumte aufwog -- ein erhöhtes wärmeres Leben, mit dem das
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frühere nüchterne Pflichtdasein sich nicht vergleichen ließ. Es ging ihm
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wie jungen Verliebten: er fühlte sich großer Heldentaten fähig, nicht
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aber der täglichen langweiligen und kleinlichen Arbeit. Und so spannte
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er sich immer wieder mit verzweifeltem Seufzer ins Joch. Es zu machen
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wie Heilner, der obenhin arbeitete und das Nötigste sich rasch und fast
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|
gewaltsam hastig aneignete, verstand er nicht. Da sein Freund ihn
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ziemlich jeden Abend in den Mußestunden in Anspruch nahm, zwang er sich
|
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|
morgens eine Stunde früher aufzustehen und rang namentlich mit der
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hebräischen Grammatik wie mit einem Feinde. Freude hatte er eigentlich
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nur noch am Homer und an der Geschichtsstunde. Mit dunkel tastendem
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|
Gefühle näherte er sich dem Verständnis der homerischen Welt, und in der
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|
Geschichte hörten allmählich die Helden auf, Namen und Zahlen zu sein,
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und blickten aus nahen, glühenden Augen und hatten lebendige, rote
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Lippen und jeder sein Gesicht und seine Hände -- einer rote, dicke, rohe
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Hände, einer stille, kühle, steinerne, und ein anderer schmale, heiße,
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feingeäderte.
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|
Auch beim Lesen der Evangelien im griechischen Texte fand er sich
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|
zuweilen von der Deutlichkeit und Nähe der Gestalten überrascht, ja
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überwältigt. Namentlich einmal, beim sechsten Kapitel des Markus, wo
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|
Jesus mit den Jüngern das Schiff verläßt und es heißt: [Griechisch:
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euthus epignontes auton periedramon], »sie erkannten ihn sogleich und
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liefen herzu.« Da sah auch er den Menschensohn das Schiff verlassen und
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erkannte ihn sogleich, weder an Gestalt noch Gesicht, sondern an der
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großen, glanzvollen Tiefe seiner Liebesaugen und an einer leise
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winkenden oder vielmehr einladenden, willkommen heißenden Gebärde seiner
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|
schlanken, schönen, bräunlichen Hand, die von einer feinen und doch
|
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starken Seele geformt und bewohnt erschien. Der Rand eines erregten
|
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Gewässers und der Schnabel einer schweren Barke tauchte für einen
|
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|
Augenblick mit auf, dann war das ganze Bild wie ein rauchender Atemzug
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im Winter vergangen.
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Je und je kam etwas Derartiges wieder, daß aus den Büchern heraus
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irgendeine Gestalt oder ein Stück Geschichte gleichsam gierig
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hervorbrach, sich sehnend, noch einmal zu leben und seinen Blick in
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||
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einem lebendigen Auge zu spiegeln. Hans nahm es hin, wunderte sich
|
||
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darüber und fühlte bei diesen raschen, stets schon wieder auf der Flucht
|
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begriffenen Erscheinungen sich tief und seltsam verwandelt, als habe er
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die schwarze Erde wie ein Glas durchblickt oder als habe Gott ihn
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|
angeschaut. Diese köstlichen Augenblicke kamen ungerufen und
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verschwanden unbeklagt als Pilger und freundliche Gäste, die man nicht
|
||
|
anzureden und zum Bleiben zu nötigen wagt, weil sie um sich her etwas
|
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|
Fremdes und Göttliches haben.
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|
Er behielt diese Erlebnisse für sich und sagte auch Heilner nichts
|
||
|
davon. Bei diesem hatte sich die frühere Schwermut in einen unruhigen,
|
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|
scharfen Geist verwandelt, der am Kloster, an Lehrern und Kameraden, am
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|
Wetter, am Menschenleben und an der Existenz Gottes Kritik übte,
|
||
|
gelegentlich auch zu Streitlust oder plötzlichen dummen Streichen
|
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führte. Da er doch einmal abgesondert und in einem Gegensatze zu den
|
||
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übrigen stand, suchte er in unüberlegtem Stolz diesen Gegensatz vollends
|
||
|
zu einem trotzigen und feindseligen Verhältnisse zuzuspitzen, in welches
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|
Giebenrath, ohne es hindern zu wollen, mit hineingeriet, so daß die
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beiden Freunde als eine auffallende und mit Mißgunst betrachtete Insel
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von der Menge abgetrennt lagen. Hans fühlte sich hierbei nach und nach
|
||
|
weniger unwohl. Wenn nur der Ephorus nicht gewesen wäre, vor dem er eine
|
||
|
dunkle Angst empfand. Früher sein Lieblingsschüler, wurde er jetzt von
|
||
|
ihm kühl behandelt und mit deutlicher Absicht vernachlässigt. Und gerade
|
||
|
am Hebräischen, dem Spezialfach des Ephorus, hatte er allmählich alle
|
||
|
Lust verloren.
|
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|
||
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Es war ergötzlich, zu sehen, wie schon in ein paar Monaten die vierzig
|
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|
Seminaristen an Leib und Seele sich verändert hatten, wenige
|
||
|
Stillständer ausgenommen. Viele waren mächtig in die Länge geschossen,
|
||
|
sehr auf Unkosten der Breite, und streckten an Armen und Beinen
|
||
|
hoffnungsvoll die Knöchel aus den nicht mitgewachsenen Kleidern. Die
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||
|
Gesichter wiesen alle Schattierungen zwischen absterbender Kindlichkeit
|
||
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und einer zaghaft sich zu brüsten beginnenden Mannheit auf, und wessen
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Körper noch von den eckigen Formen der Entwicklungszeit frei war, dem
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||
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hatte das Studium der Bücher Mosis wenigstens einen provisorischen
|
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Mannesernst auf die glatte Stirn verliehen. Pausbacken waren geradezu
|
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|
Raritäten geworden.
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|
Auch Hans hatte sich verändert. An Größe und Magerkeit kam er Heilner
|
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nun gleich, ja er sah jetzt fast älter als jener aus. Die früher zart
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||
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durchscheinenden Kanten der Stirn hatten sich herausgearbeitet und die
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||
|
Augen lagen tiefer, das Gesicht war von ungesunder Farbe, Glieder und
|
||
|
Schultern waren knochig und hager.
|
||
|
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Je weniger er mit seinen Leistungen in der Schule selber zufrieden war,
|
||
|
desto herber schloß er sich, unter Heilners Einfluß, von den Kameraden
|
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ab. Da er keinen Grund mehr hatte, als Musterschüler und künftiger
|
||
|
Primus auf sie herabzuschauen, kleidete ihn der Hochmut herzlich
|
||
|
schlecht. Aber daß man ihn das merken ließ und daß er es selber
|
||
|
schmerzlich in sich spürte, verzieh er ihnen nicht. Namentlich mit dem
|
||
|
tadellosen Hartner und jenem vorlauten Otto Wenger gab es mehrmal
|
||
|
Händel. Als der letztere ihn eines Tages wieder höhnte und ärgerte,
|
||
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vergaß sich Hans und antwortete mit einem Faustschlag. Es gab ein böses
|
||
|
Hauen. Wenger war ein Feigling, aber mit dem schwächlichen Gegner war es
|
||
|
leicht fertig zu werden, und er schlug rücksichtslos zu. Heilner war
|
||
|
nicht zugegen, die andern schauten müßig zu und gönnten Hans die
|
||
|
Züchtigung. Er wurde regelrecht durchgebläut, blutete aus der Nase und
|
||
|
alle Rippen taten ihm weh. Die ganze Nacht hielten Scham, Schmerz und
|
||
|
Zorn ihn wach. Seinem Freunde verschwieg er das Erlebnis, schloß sich
|
||
|
aber von jetzt an streng ab und wechselte kaum mehr ein Wort mit den
|
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|
Stubenkameraden.
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Gegen das Frühjahr hin, unter dem Einfluß der Regenmittage,
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Regensonntage und langen Dämmerungen zeigten sich neue Bildungen und
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Bewegungen im Klosterleben. Die Stube Akropolis, zu deren Bewohnern ein
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guter Klavierspieler und zwei Flötenbläser gehörten, gründete zwei
|
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regelmäßige Musikabende, auf der Stube Germania eröffnete man einen
|
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|
dramatischen Leseverein, und einige junge Pietisten etablierten einen
|
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|
Bibelkranz, der allabendlich ein Bibelkapitel samt den Noten der
|
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Calwerbibel las.
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Zum Leseverein der Stube Germania meldete sich Heilner als Mitglied und
|
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wurde nicht angenommen. Er kochte vor Wut. Zur Rache ging er nun in den
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Bibelkranz. Man wollte ihn auch dort nicht haben, doch drängte er sich
|
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|
auf und brachte in die frommen Gespräche der bescheidenen kleinen
|
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Brüderschaft Zank und Hader durch seine kühnen Reden und gottlosen
|
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Anspielungen. Bald wurde er auch dieses Spaßes müde, behielt aber einen
|
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ironisch-biblischen Ton im Reden noch länger bei. Indessen wurde er
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diesmal kaum beachtet, da die Promotion jetzt völlig von einem Geist des
|
||
|
Unternehmens und Gründens besessen war.
|
||
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|
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Am meisten machte ein begabter und witziger Spartaner von sich reden.
|
||
|
Ihm war es, nächst dem persönlichen Ruhm, lediglich darum zu tun, etwas
|
||
|
Leben in die Bude zu bringen und sich durch allerlei witzige Allotria
|
||
|
eine öftere Erholung von dem einförmigen Arbeitsleben zu verschaffen. Er
|
||
|
hieß mit Spitznamen Dunstan und fand einen originellen Weg, Sensation zu
|
||
|
machen und sich zu einem gewissen Ruhm emporzuschwingen.
|
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|
|
||
|
Eines Morgens, als die Schüler aus den Schlafsälen kamen, fanden sie an
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|
die Waschsaaltüre ein Papier geklebt, auf welchem unter dem Titel »Sechs
|
||
|
Epigramme aus Sparta« eine ausgewählte Zahl von auffallenderen
|
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|
Kameraden, ihre Narrheiten, Streiche, Freundschaften in Distichen witzig
|
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|
verhöhnt waren. Auch das Paar Giebenrath und Heilner hatte seinen Hieb
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bekommen. Eine ungeheure Aufregung entstand in dem kleinen Staatswesen,
|
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|
man drängte sich vor jener Tür wie am Eingang eines Theaters und die
|
||
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ganze Schar surrte, stieß und säuselte durcheinander wie ein Bienenvolk,
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dessen Königin sich zum Fluge anschickt.
|
||
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|
Am folgenden Morgen war die ganze Türe mit Epigrammen und Xenien
|
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gespickt, mit Erwiderungen, Zustimmungen, neuen Angriffen, ohne daß
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||
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jedoch der Urheber des Skandals so unklug gewesen wäre, sich wieder
|
||
|
daran zu beteiligen. Seinen Zweck, den Zunder in die Scheuer zu werfen,
|
||
|
hatte er erreicht und rieb sich die Hände. Fast alle Schüler beteiligten
|
||
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sich nun einige Tage lang am Xenienkampf, nachdenklich schritt jeder
|
||
|
umher, auf ein Distichon bedacht, und vielleicht war Lucius der einzige,
|
||
|
der unbekümmert wie sonst seiner Arbeit nachging. Am Ende nahm ein
|
||
|
Lehrer davon Notiz und verbot die Fortsetzung des aufregenden Spiels.
|
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||
|
Der schlaue Dunstan ruhte nicht auf seinen Lorbeeren aus, sondern hatte
|
||
|
inzwischen seinen Hauptschlag vorbereitet. Er gab nun die erste Nummer
|
||
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einer Zeitung heraus, die in winzigem Format auf Konzeptpapier
|
||
|
hektographiert war und zu der er seit Wochen Stoff gesammelt hatte. Sie
|
||
|
führte den Titel »Stachelschwein« und war vorwiegend ein Witzblatt. Ein
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||
|
fideles Gespräch zwischen dem Verfasser des Buches Josua und einem
|
||
|
Maulbronner Seminaristen war das Glanzstück der ersten Nummer. Das Blatt
|
||
|
wurde gratis an jede Stube in zwei Exemplaren abgegeben und sollte
|
||
|
künftig wöchentlich zweimal erscheinen und fünf Pfennig kosten. Der
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||
|
Erlös war zu einer Vergnügungskasse bestimmt.
|
||
|
|
||
|
Der Erfolg war durchschlagend, und Dunstan, der nun Miene und Benehmen
|
||
|
eines stark beschäftigten Redakteurs und Verlegers annahm, genoß im
|
||
|
Kloster ungefähr denselben heiklen Ruf, wie seinerzeit der famose
|
||
|
Aretiner in der Republik Venedig.
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|
||
|
Es erregte allgemeines Erstaunen, als Hermann Heilner sich mit
|
||
|
Leidenschaft an der Redaktion beteiligte und nun mit Dunstan zusammen
|
||
|
ein scharfes satirisches Zensorat ausübte, wozu es ihm weder an Witz
|
||
|
noch an Gift gebrach. Etwa vier Wochen lang hielt die kleine Zeitung das
|
||
|
ganze Kloster in Atem.
|
||
|
|
||
|
Giebenrath ließ seinen Freund gewähren, er selber hatte weder die Lust
|
||
|
noch die Gabe, mitzumachen. Er merkte es anfangs sogar kaum, daß Heilner
|
||
|
neuerdings so häufig seine Abende in Sparta zubrachte, denn seit kurzem
|
||
|
beschäftigten ihn andere Dinge. Tagsüber ging er träg und unaufmerksam
|
||
|
umher, arbeitete langsam und ohne Lust, und einmal passierte ihm in der
|
||
|
Liviusstunde etwas Seltsames.
|
||
|
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||
|
Der Professor rief ihn zum Übersetzen auf. Er blieb sitzen.
|
||
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|
»Was soll das heißen? Warum stehen Sie nicht auf?« rief der Professor
|
||
|
ärgerlich.
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||
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Hans rührte sich nicht. Er saß aufrecht in der Bank, hatte den Kopf ein
|
||
|
wenig gesenkt und die Augen halb geschlossen. Der Aufruf hatte ihn aus
|
||
|
einem Träumen halb erweckt, doch hörte er die Stimme des Lehrers nur wie
|
||
|
aus einer großen Entfernung. Er spürte auch, daß sein Banknachbar ihn
|
||
|
heftig anstieß. Es ging ihn nichts an. Er war von anderen Menschen
|
||
|
umgeben, andere Hände berührten ihn und andere Stimmen redeten zu ihm,
|
||
|
nahe, leise, tiefe Stimmen, welche keine Worte sprachen, sondern nur
|
||
|
tief und mild wie Brunnentöne rauschten. Und viele Augen sahen ihn an --
|
||
|
fremde, ahnungsvolle, große, glanzvolle Augen. Vielleicht die Augen
|
||
|
einer römischen Volksmenge, von welcher er eben noch im Livius gelesen
|
||
|
hatte, vielleicht die Augen unbekannter Menschen, von denen er geträumt
|
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oder die er irgend einmal auf Bildern gesehen hatte.
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|
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»Giebenrath!« schrie der Professor. »Schlafen Sie denn?«
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|
Der Schüler schlug langsam die Augen auf, heftete sie erstaunt auf den
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Lehrer und schüttelte den Kopf.
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|
»Sie haben geschlafen! Oder können Sie mir sagen, an welchem Satz wir
|
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stehen? Nun?«
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Hans deutete mit dem Finger ins Buch, er wußte gut, wo man stand.
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|
»Wollen Sie jetzt vielleicht auch aufstehen?« fragte der Professor
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höhnisch. Und Hans stand auf.
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»Was treiben Sie denn? Sehen Sie mich an!«
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Er sah den Professor an. Diesem gefiel der Blick aber nicht, denn er
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schüttelte verwundert den Kopf.
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|
»Sind Sie unwohl, Giebenrath?«
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||
|
»Nein, Herr Professor.«
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»Setzen Sie sich wieder und kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein
|
||
|
Zimmer.«
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Hans setzte sich und bückte sich über seinen Livius. Er war ganz wach
|
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und verstand alles, zugleich folgte aber sein inneres Auge den vielen
|
||
|
fremden Gestalten, die sich langsam in große Weiten entfernten und immer
|
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|
ihre glänzenden Augen auf ihn gerichtet hielten, bis sie ganz in der
|
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|
Weite in einem Nebel untersanken. Zugleich kam die Stimme des Lehrers
|
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und die des übersetzenden Schülers und alles kleine Geräusch des
|
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Lehrsaals immer näher und war schließlich wieder so wirklich und
|
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|
gegenwärtig wie sonst. Bänke, Katheder und Tafel standen da wie immer,
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||
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an der Wand hing der große hölzerne Zirkel und der Reißwinkel, ringsum
|
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saßen alle Kameraden und viele von ihnen schielten neugierig und frech
|
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|
zu ihm herüber. Da erschrak Hans heftig.
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||
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|
»Kommen Sie nach Schluß der Lektion auf mein Zimmer«, hatte er sagen
|
||
|
hören. Herrgott, was war denn passiert?
|
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Am Ende der Stunde winkte ihn der Professor zu sich und nahm ihn mit
|
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|
durch die glotzenden Kameraden hindurch.
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»Nun sagen Sie, was denn eigentlich mit Ihnen war? Geschlafen haben Sie
|
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also nicht?«
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»Nein.«
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»Warum sind Sie nicht aufgestanden, als ich Sie anrief?«
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»Ich weiß nicht.«
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»Oder haben Sie mich nicht gehört? Sind Sie schwerhörig?«
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»Nein. Ich habe Sie gehört.«
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»Und sind nicht aufgestanden? Sie hatten nachher auch so sonderbare
|
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Augen. An was dachten Sie denn?«
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»An nichts. Ich wollte schon aufstehen.«
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»Warum taten Sie es nicht? Waren Sie also doch unwohl?«
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»Ich glaube nicht. Ich weiß nicht, was es war.«
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»Hatten Sie Kopfweh?«
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»Nein.«
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»Es ist gut. Gehen Sie.«
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Vor Tisch wurde er wieder abgerufen und in den Schlafsaal gebracht. Dort
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wartete der Ephorus mit dem Oberamtsarzt auf ihn. Er wurde untersucht
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und ausgefragt, doch kam nichts Klares zum Vorschein. Der Arzt lachte
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gutmütig und nahm die Sache leicht.
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»Das sind kleine Nervengeschichten, Herr Ephorus«, kicherte er sanft.
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»Ein vorübergehender Zustand von Schwäche -- eine Art leichter
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Schwindel. Man muß sehen, daß der junge Mann täglich an die Luft kommt.
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Fürs Kopfweh kann ich ihm ein paar Tropfen verschreiben.«
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Von da an mußte Hans täglich nach Tisch eine Stunde ins Freie. Er hatte
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nichts dagegen. Schlimmer war es, daß der Ephorus ihm Heilners
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Begleitung auf diesen Spaziergängen ausdrücklich verbot. Dieser wütete
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und schimpfte, mußte jedoch nachgeben. So ging Hans stets allein und
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fand eine gewisse Freude daran. Es war Frühlingsbeginn. Über die runden,
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schöngewölbten Hügel lief wie eine dünne, lichte Welle das keimende
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Grün, die Bäume legten ihre Wintergestalt, das braune Netzwerk mit den
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scharfen Umrissen, ab und verloren sich mit jungem Blätterspiel
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ineinander und in die Farben der Landschaft, als eine unbegrenzte,
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fließende Woge von lebendigem Grün.
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Früher, in den Lateinschuljahren, hatte Hans den Frühling anders als
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diesmal betrachtet, lebhafter und neugieriger und mehr im einzelnen. Er
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hatte die zurückkehrenden Vögel beobachtet, eine Gattung um die andere,
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und die Reihenfolge der Baumblüte, und dann, sobald es Mai war, hatte er
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zu angeln begonnen. Jetzt gab er sich keine Mühe, die Vogelarten zu
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unterscheiden oder die Sträucher an ihren Knospen zu erkennen. Er sah
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nur das allgemeine Treiben, die überall sprossenden Farben, atmete den
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Geruch des jungen Laubes, spürte die weichere und gärende Luft und ging
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verwundert durch die Felder. Er ermüdete bald, hatte immer eine Neigung
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zu liegen und einzuschlafen und sah fast fortwährend allerlei andere
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Dinge, als die ihn wirklich umgaben. Was es eigentlich für Dinge waren,
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wußte er selbst nicht, und er besann sich nicht darüber. Es waren helle,
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zarte, ungewöhnliche Träume, die ihn wie Bildnisse oder wie Alleen
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fremdartiger Bäume umstanden, ohne daß etwas in ihnen geschah. Reine
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Bilder, nur zum Anschauen, aber das Anschauen derselben war doch auch
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ein Erleben. Es war ein Weggenommensein in andere Gegenden und zu
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anderen Menschen. Es war ein Wandeln auf fremder Erde, auf einem
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weichen, angenehm zu betretenden Boden, und es war ein Atmen fremder
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Luft, einer Luft voll Leichtigkeit und feiner, träumerischer Würze. An
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Stelle dieser Bilder kam zuweilen auch ein Gefühl, dunkel, warm und
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erregend, als glitte ihm eine leichte Hand mit weicher Berührung über
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den Körper.
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Beim Lesen und Arbeiten hatte Hans große Mühe, aufmerksam zu sein. Was
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ihn nicht interessierte, glitt ihm schattenhaft unter den Händen weg und
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die hebräischen Vokabeln mußte er, wenn er sie in der Lektion noch
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wissen wollte, erst in der letzten halben Stunde lernen. Häufig aber
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kamen jene Momente körperhafter Anschauung, daß er beim Lesen alles
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Geschilderte plötzlich dastehen, leben und sich bewegen sah, viel
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leibhaftiger und wirklicher als die nächste Umgebung. Und während er mit
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Verzweiflung bemerkte, daß sein Gedächtnis nichts mehr aufnehmen wollte
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und fast täglich lahmer und unsicherer wurde, überfielen ihn zuweilen
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ältere Erinnerungen mit einer unheimlichen Deutlichkeit, die ihm
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wunderlich und beängstigend erschien. Mitten in einer Lektion oder bei
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einer Lektüre fiel ihm manchmal sein Vater oder die alte Anna oder einer
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seiner früheren Lehrer oder Mitschüler ein, stand sichtbar vor ihm und
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nahm für eine Weile seine ganze Aufmerksamkeit gefangen. Auch Szenen aus
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dem Stuttgarter Aufenthalt, aus dem Landexamen und aus den Ferien
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erlebte er wieder und wieder, oder er sah sich mit der Angelrute am
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Flusse sitzen, roch den Dunst des sonnigen Wassers, und zugleich kam es
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ihm vor, als liege die Zeit, von der er träumte, um ganze lange Jahre
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zurück.
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An einem laulich feuchten, finsteren Abend schlenderte er mit Heilner im
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Dorment hin und her und erzählte von daheim, vom Papa, vom Angeln und
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von der Schule. Sein Freund war auffallend still; er ließ ihn reden,
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nickte hie und da oder tat mit seinem kleinen Lineal, mit dem er den
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lieben langen Tag spielen mußte, ein paar nachdenkliche Hiebe in die
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Luft. Allmählich verstummte auch Hans; es war Nacht geworden und sie
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setzten sich auf den Sims eines Fensters.
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»Du, Hans?« fing Heilner schließlich an. Seine Stimme war unsicher und
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aufgeregt.
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»Was?«
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»Ach nichts.«
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»Nein, red' nur!«
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»Ich dachte bloß -- weil du so allerlei erzählt hast --«
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»Was denn?«
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»Sag, Hans, bist du eigentlich nie einem Mädchen nachgelaufen?«
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Es entstand eine Stille. Davon hatten sie noch nie gesprochen. Hans
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fürchtete sich davor und doch zog dieses rätselhafte Gebiet ihn wie ein
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Märchengarten an. Er fühlte, wie er rot wurde, und seine Finger
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zitterten.
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»Nur einmal«, sagte er flüsternd. »Ich war noch ein dummer Bub.«
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Wieder Stille.
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»-- und du, Heilner?«
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Heilner seufzte.
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»Ach laß! -- Weißt du, man sollte gar nicht davon reden, es hat ja
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keinen Wert.«
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»Doch, doch.«
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»-- Ich hab' einen Schatz.«
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»Du? Ist's wahr?«
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»Daheim. Vom Nachbar. Und diesen Winter hab' ich ihr einen Kuß gegeben.«
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»Einen Kuß --?«
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»Ja. -- Weißt du, es war schon dunkel. Abends, auf dem Eis, und ich
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durfte ihr helfen, die Schlittschuhe ausziehen. Da hab' ich ihr einen
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Kuß gegeben.«
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»Hat sie nichts gesagt?«
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»Gesagt nicht. Sie ist bloß fortgelaufen.«
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»Und dann?«
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»Und dann! -- Nichts.«
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Er seufzte wieder und Hans sah ihn an wie einen Helden, der aus
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verbotenen Gärten kommt.
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Da läutete die Glocke, man mußte zu Bett gehen. Dort lag Hans, als die
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Laterne gelöscht und alles still geworden war, noch länger als eine
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Stunde wach und dachte an den Kuß, den Heilner seinem Schatz gegeben
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hatte.
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Am andern Tag wollte er weiter fragen, schämte sich aber, und der
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||
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andere, da Hans ihn nicht fragte, scheute sich, von selber wieder davon
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anzufangen.
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|
In der Schule ging es Hans immer schlechter. Die Lehrer fingen an böse
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|
Gesichter zu schneiden und sonderbare Blicke zu schießen, der Ephorus
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war finster und ärgerlich und auch die Mitschüler hatten längst gemerkt,
|
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|
daß Giebenrath von seiner Höhe herabsank und aufgehört hatte, auf den
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|
Primus zu zielen. Nur Heilner merkte nichts, da ihm selber die Schule
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|
nicht sonderlich wichtig war, und Hans selber sah alles geschehen und
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sich verändern, ohne darauf zu achten.
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|
Heilner hatte unterdessen das Zeitungsredigieren satt bekommen und
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|
kehrte ganz zu seinem Freunde zurück. Dem Verbote zum Trotz begleitete
|
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|
er Hans mehrmals auf seinem täglichen Spaziergang, lag mit ihm in der
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|
Sonne und träumte, las Gedichte vor oder machte Witze über den Ephorus.
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Hans hoffte von Tag zu Tag, er würde mit den Enthüllungen seiner
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|
Liebesabenteuer fortfahren, doch brachte er es je länger je weniger über
|
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|
sich, danach zu fragen. Bei den Kameraden waren sie beide so unbeliebt
|
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|
wie je, denn Heilner hatte durch seine boshaften Witze im
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»Stachelschwein« niemandes Vertrauen erworben.
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Die Zeitung ging um diese Zeit ohnehin ein; sie hatte sich überlebt und
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war auch nur auf die langweiligen Wochen zwischen Winter und Frühjahr
|
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|
berechnet gewesen. Jetzt bot die beginnende schöne Jahreszeit
|
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|
Unterhaltung genug durch Botanisieren, Spaziergänge und Spiele im
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||
|
Freien. Jeden Mittag erfüllten Turner, Ringkämpfer, Wettläufer und
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|
Ballschläger den Klostervorhof mit Geschrei und Leben.
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|
Dazu kam nun eine neue große Sensation, deren Urheber und Mittelpunkt
|
||
|
wieder der allgemeine Stein des Anstoßes, Hermann Heilner, war.
|
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||
|
Der Ephorus hatte durch liebevolle Mitschüler erfahren, daß Heilner sich
|
||
|
über sein Verbot lustig mache und fast alle Tage den spazieren gehenden
|
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|
Giebenrath begleite. Diesmal ließ er Hans in Ruhe und zitierte nur den
|
||
|
Hauptsünder, seinen alten Feind, auf sein Amtszimmer. Er duzte ihn, was
|
||
|
Heilner sich sogleich verbat. Er hielt ihm seinen Ungehorsam vor.
|
||
|
Heilner erklärte, er sei Giebenraths Freund und niemand habe das Recht,
|
||
|
ihnen den Verkehr miteinander zu verbieten. Es setzte eine böse Szene,
|
||
|
deren Resultat war, daß Heilner ein paar Stunden Arrest erhielt samt dem
|
||
|
strengen Verbot, in nächster Zeit mit Giebenrath zusammen auszugehen.
|
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|
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||
|
Am nächsten Tage machte also Hans seinen offiziellen Spaziergang wieder
|
||
|
allein. Er kam um zwei Uhr zurück und fand sich mit den andern im
|
||
|
Lehrsaal ein. Beim Beginn der Lektion stellte sich heraus, daß Heilner
|
||
|
fehlte. Es war alles genau so wie damals beim Verschwinden des Hindu,
|
||
|
nur dachte diesmal niemand an ein Verspäten. Um drei Uhr ging die ganze
|
||
|
Promotion samt drei Lehrern auf die Streife nach dem Vermißten. Man
|
||
|
verteilte sich, lief und schrie durch die Wälder, und manche, auch zwei
|
||
|
von den Lehrern, hielten es nicht für unmöglich, daß er sich ein Leid
|
||
|
angetan habe.
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|
Um fünf Uhr wurde an alle Polizeistellen der Gegend telegraphiert und
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||
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abends ein Eilbrief an Heilners Vater abgeschickt. Am späten Abend hatte
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||
|
man noch keinerlei Spur gefunden und bis in die Nacht hinein wurde in
|
||
|
allen Schlafsälen geflüstert und gewispert. Unter den Schülern fand die
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||
|
Annahme, er sei ins Wasser gesprungen, den meisten Glauben. Andere
|
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|
meinten, er sei einfach nach Hause gereist. Aber man hatte festgestellt,
|
||
|
daß der Durchgänger fast gar kein Geld bei sich haben konnte.
|
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|
Hans wurde angesehen, als müsse er um die Sache wissen. Dem war aber
|
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|
nicht so, vielmehr war er der Erschrockenste und Bekümmertste von allen,
|
||
|
und nachts im Schlafsaal, als er die andern fragen, vermuten, fabeln und
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||
|
witzeln hörte, verkroch er sich tief in seine Decke und lag lange böse
|
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|
Stunden in Leid und Angst um seinen Freund. Ein Vorgefühl, daß dieser
|
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|
nicht wiederkommen würde, ergriff sein banges Herz und erfüllte ihn mit
|
||
|
einem furchtsamen Wehgefühl, bis er matt und bekümmert entschlief.
|
||
|
|
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|
Um dieselben Stunden lag Heilner ein paar Meilen entfernt in einem
|
||
|
Gehölz. Er fror und konnte nicht schlafen, doch atmete er in einem
|
||
|
tiefen Freiheitsgefühl mächtig auf und streckte die Glieder, als wäre er
|
||
|
aus einem engen Käfig entronnen. Er war seit Mittag gelaufen, hatte in
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||
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Knittlingen Brot gekauft und nahm nun zuweilen einen Bissen davon,
|
||
|
während er durch das noch frühlinghaft lichte Gezweige Nachtschwärze,
|
||
|
Sterne und schnellsegelnde Wolken beschaute. Wohin er schließlich käme,
|
||
|
war ihm einerlei; wenigstens war er nun dem verhaßten Kloster
|
||
|
entsprungen und hatte dem Ephorus gezeigt, daß sein Wille stärker war
|
||
|
als Befehle und Verbote.
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|
Den ganzen folgenden Tag suchte man ihn vergeblich. Er brachte die
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||
|
zweite Nacht in der Nähe eines Dorfes zwischen Strohbündeln auf dem
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|
Felde zu; morgens schlug er sich wieder in den Wald und fiel erst gegen
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|
Abend, da er wieder ein Dorf besuchen wollte, einem Landjäger in die
|
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|
Hände. Der empfing ihn mit freundlichem Spott und brachte ihn aufs
|
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Rathaus, wo er durch Witz und Schmeichelei das Herz des Schulzen gewann,
|
||
|
der ihn zum Übernachten mit nach Hause nahm und vor dem Bettgehen
|
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|
reichlich mit Schinken und Eiern fütterte. Andern Tags holte ihn sein
|
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|
inzwischen herzugereister Vater ab.
|
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Die Aufregung im Kloster war groß, als der Ausreißer eingebracht wurde.
|
||
|
Er trug aber den Kopf hoch und schien seine kleine Geniereise gar nicht
|
||
|
zu bereuen. Man verlangte, er solle Abbitte tun, doch weigerte er sich
|
||
|
und trat dem Femgericht des Lehrerkonvents durchaus nicht zaghaft oder
|
||
|
ehrerbietig gegenüber. Man hatte ihn halten wollen, nun war aber das Maß
|
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|
voll. Er wurde in Schanden entlassen und reiste abends mit seinem Vater
|
||
|
auf Nichtwiederkommen ab. Von seinem Freund Giebenrath hatte er nur
|
||
|
durch einen Händedruck Abschied nehmen können.
|
||
|
|
||
|
Schön und schwungvoll war die große Rede, die der Herr Ephorus auf
|
||
|
diesen außerordentlichen Fall von Widersetzlichkeit und Entartung hielt.
|
||
|
Viel zahmer, sachlicher und schwächlicher lautete sein Bericht an die
|
||
|
Oberbehörde nach Stuttgart. Den Seminaristen wurde der Briefwechsel mit
|
||
|
dem abgegangenen Ungeheuer verboten, wozu Hans Giebenrath freilich nur
|
||
|
lächelte. Wochenlang wurde von nichts so viel geredet, wie von Heilner
|
||
|
und seiner Flucht. Die Entfernung und die entschwindende Zeit
|
||
|
veränderten das allgemeine Urteil und manche sahen dem seinerzeit
|
||
|
ängstlich gemiedenen Flüchtling später nach wie einem entflogenen Adler.
|
||
|
|
||
|
Die Stube Hellas wies nun zwei leerstehende Pulte auf und der zuletzt
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||
|
Verlorene ward nicht so rasch wie der vorige vergessen. Nur dem Ephorus
|
||
|
wäre es lieber gewesen, auch den zweiten still und versorgt zu wissen.
|
||
|
Doch tat Heilner nichts, um den Klosterfrieden zu stören. Sein Freund
|
||
|
wartete und wartete, aber es kam nie ein Brief von ihm. Er war fort und
|
||
|
verschollen, seine Gestalt und seine Flucht wurde allmählich zu
|
||
|
Geschichte und schließlich zu Sage. Den leidenschaftlichen Knaben nahm
|
||
|
später, nach mancherlei weiteren Geniestreichen und Verirrungen, das
|
||
|
Leid des Lebens in eine strenge Zucht und es ist, wenn nicht ein Held,
|
||
|
so doch ein aufrechter und stattlicher Mann aus ihm geworden.
|
||
|
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||
|
Auf dem zurückgebliebenen Hans ruhte der Verdacht, um Heilners Flucht
|
||
|
gewußt zu haben, und raubte ihm vollends das Wohlwollen der Lehrer.
|
||
|
Einer derselben sagte ihm, als er in der Lektion auf mehrere Fragen die
|
||
|
Antwort schuldig blieb: »Warum sind Sie denn nicht mit Ihrem schönen
|
||
|
Freund Heilner gegangen?«
|
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|
|
||
|
Der Ephorus ließ ihn sitzen und sah ihn von der Seite mit
|
||
|
verachtungsvollem Mitleid an wie der Pharisäer den Zöllner. Dieser
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||
|
Giebenrath zählte nicht mehr mit, er gehörte zu den Aussätzigen.
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|
Fünftes Kapitel
|
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|
Wie ein Hamster mit aufgespeicherten Vorräten, so erhielt sich Hans mit
|
||
|
seiner früher erworbenen Gelehrsamkeit noch einige Frist am Leben. Dann
|
||
|
begann ein peinliches Darben, durch kurze und kraftlose neue Anläufe
|
||
|
unterbrochen, deren Hoffnungslosigkeit ihn schier selber lächerte. Er
|
||
|
unterließ es nun, sich nutzlos zu plagen, warf den Homer dem Pentateuch
|
||
|
und die Algebra dem Xenophon nach und sah ohne Aufregung zu, wie bei den
|
||
|
Lehrern sein guter Ruf stufenweise herabsank, von gut auf ziemlich, von
|
||
|
ziemlich auf mittelmäßig und endlich auf Null. Wenn er nicht Kopfweh
|
||
|
hatte, was jetzt wieder die Regel war, so dachte er an Hermann Heilner,
|
||
|
träumte seine leichten, großäugigen Träume und dämmerte stundenlang in
|
||
|
Halbgedanken hin. Auf die sich mehrenden Vorwürfe aller Lehrer
|
||
|
antwortete er neuerdings durch ein gutmütiges, demütiges Lächeln.
|
||
|
Repetent Wiedrich, ein freundlicher junger Lehrer, war der einzige, dem
|
||
|
dies hilflose Lächeln weh tat und der den aus der Bahn gekommenen Knaben
|
||
|
mit einer mitleidigen Schonung behandelte. Die übrigen Lehrer waren über
|
||
|
ihn entrüstet, straften ihn durch verächtliches Sitzenlassen oder
|
||
|
versuchten gelegentlich, seinen eingeschlafenen Ehrgeiz durch ironisches
|
||
|
Kitzeln aufzuwecken.
|
||
|
|
||
|
»Falls Sie gerade nicht schlafen sollten, darf ich Sie vielleicht
|
||
|
ersuchen, diesen Satz zu lesen?«
|
||
|
|
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|
Vornehm indigniert war der Ephorus. Der eitle Mann bildete sich viel auf
|
||
|
die Macht seines Blickes ein und war außer sich, wenn Giebenrath seinem
|
||
|
majestätisch drohenden Augenrollen immer wieder sein demütig ergebenes
|
||
|
Lächeln entgegenhielt, das ihn allmählich nervös machte.
|
||
|
|
||
|
»Lächeln Sie nicht so bodenlos stupid, Sie hätten eher Grund zu heulen.«
|
||
|
|
||
|
Mehr Eindruck machte ein väterlicher Brief, der ihn voll Entsetzens
|
||
|
beschwor, sich zu bessern. Der Ephorus hatte an Vater Giebenrath
|
||
|
geschrieben und dieser war heillos erschrocken. Sein Brief an Hans war
|
||
|
eine Sammlung aller aufmunternden und sittlich entrüsteten Redensarten,
|
||
|
über die der wackere Mann verfügte, und ließ doch, ohne es zu wollen,
|
||
|
eine weinerliche Kläglichkeit durchscheinen, welche dem Sohn wehe tat.
|
||
|
|
||
|
Alle diese ihrer Pflicht beflissenen Lenker der Jugend, vom Ephorus bis
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||
|
auf den Papa Giebenrath, Professoren und Repetenten, sahen in Hans ein
|
||
|
böses Element, ein Hindernis ihrer Wünsche, etwas Verstocktes und
|
||
|
Träges, das man zwingen und mit Gewalt auf gute Wege zurückbringen
|
||
|
müsse. Keiner, außer vielleicht jenem mitleidigen Repetenten, sah hinter
|
||
|
dem hilflosen Lächeln des schmalen Knabengesichts eine untergehende
|
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|
Seele leiden und im Ertrinken angstvoll und verzweifelnd um sich
|
||
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blicken. Und keiner dachte etwa daran, daß die Schule und der
|
||
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barbarische Ehrgeiz eines Vaters und einiger Lehrer dieses gebrechliche,
|
||
|
feine Wesen so weit gebracht hatten, indem sie in der unschuldig vor
|
||
|
ihnen ausgebreiteten Seele des zarten Kindes ohne Rücksicht wüteten.
|
||
|
Warum hatte er in den empfindlichsten und gefährlichsten Knabenjahren
|
||
|
täglich bis in die Nacht hinein arbeiten müssen? Warum hatte man ihm
|
||
|
seine Kaninchen weggenommen, ihn den Kameraden in der Lateinschule mit
|
||
|
Absicht entfremdet, ihm Angeln und Bummeln verboten und ihm das hohle,
|
||
|
gemeine Ideal eines schäbigen, aufreibenden Ehrgeizes eingeimpft? Warum
|
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|
hatte man ihm selbst nach dem Examen die wohlverdienten Ferien nicht
|
||
|
gegönnt?
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||
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||
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Nun lag das überhetzte Rößlein am Weg und war nimmer zu brauchen.
|
||
|
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||
|
Gegen Sommersanfang erklärte der Oberamtsarzt nochmals, es handle sich
|
||
|
lediglich um einen nervösen Schwächezustand, der hauptsächlich vom
|
||
|
Wachsen herkomme. Hans solle sich in den Ferien tüchtig herauspflegen
|
||
|
lassen, genug essen und viel in den Wald laufen, so werde es schon
|
||
|
bessern.
|
||
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||
|
Leider kam es gar nicht so weit. Es war noch drei Wochen vor den Ferien,
|
||
|
als Hans in einer Nachmittagslektion vom Professor heftig gescholten
|
||
|
wurde. Während der Lehrer noch weiterschimpfte, sank Hans in die Bank
|
||
|
zurück, begann ängstlich zu zittern und brach in einen langdauernden
|
||
|
Weinkrampf aus, der die ganze Lektion unterbrach. Darauf lag er einen
|
||
|
halben Tag im Bett.
|
||
|
|
||
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* * * * *
|
||
|
|
||
|
Tags darauf wurde er in der Mathematikstunde aufgefordert, an der
|
||
|
Wandtafel eine geometrische Figur zu zeichnen und den Beweis dazu zu
|
||
|
führen. Er trat heraus, aber vor der Tafel wurde ihm schwindlig; er fuhr
|
||
|
mit Kreide und Lineal sinnlos in der Fläche herum, ließ beides fallen
|
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|
und als er sich darnach bückte, blieb er selber am Boden knien und
|
||
|
konnte nicht wieder aufstehen.
|
||
|
|
||
|
Der Oberamtsarzt war ziemlich ärgerlich, daß sein Patient sich solche
|
||
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Streiche leistete. Er drückte sich vorsichtig aus, gebot sofortigen
|
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|
Erholungsurlaub und empfahl die Zuziehung eines Nervenarztes.
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||
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»Der kriegt noch den Veitstanz«, flüsterte er dem Ephorus zu, der mit
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||
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dem Kopf nickte und es angezeigt fand, den ungnädig ärgerlichen Ausdruck
|
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seines Gesichts in einen väterlich bedauernden abzuändern, was ihm
|
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leicht fiel und gut stand.
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|
||
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Er und der Arzt schrieben je einen Brief an Hansens Vater, steckten ihn
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dem Jungen in die Tasche und schickten ihn nach Hause. Der Ärger des
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Ephorus hatte sich in schwere Besorgnis verwandelt -- was sollte die
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eben erst durch den Fall Heilner beunruhigte Schulbehörde von diesem
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neuen Unglück denken? Er verzichtete sogar zum allgemeinen Erstaunen
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darauf, eine dem Vorfall entsprechende Rede zu halten, und war in den
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letzten Stunden gegen Hans von einer unheimlichen Leutseligkeit. Daß
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dieser aus dem Erholungsurlaub nicht zurückkehren würde, war ihm klar --
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auch im Fall der Genesung hätte der jetzt schon weit hintangebliebene
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Schüler die versäumten Monate oder auch nur Wochen unmöglich einholen
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können. Zwar verabschiedete er ihn mit einem ermunternd herzlichen »auf
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Wiedersehen«, so oft er aber in der nächsten Zeit die Stube Hellas
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betrat und die drei leeren Pulte sah, ward ihm peinlich zumut und hatte
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er Mühe, den Gedanken in sich niederzukämpfen, daß ihn am Verschwinden
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zweier begabter Zöglinge vielleicht doch ein Teil der Schuld treffen
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möge. Als einem tapferen und sittlich starken Manne gelang es ihm
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jedoch, diese unnützen und finstern Zweifel aus seiner Seele zu bannen.
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Hinter dem mit seinem kleinen Reisesack abfahrenden Seminaristen versank
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das Kloster mit Kirchen, Tor, Giebeln und Türmen, versanken Wald und
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Hügelfluchten, an ihrer Stelle tauchten die fruchtbaren Obstwiesen des
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badischen Grenzlandes auf, dann kam Pforzheim und gleich dahinter fingen
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die bläulich schwarzen Tannenberge des Schwarzwaldes an, von zahlreichen
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Bachtälern durchschnitten und in der heißen Sommerglut noch blauer,
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kühler und schattenverheißender als sonst. Der Junge betrachtete die
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wechselnde und sich immer heimatlicher gestaltende Landschaft nicht ohne
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Vergnügen, bis ihm, schon nahe der Heimatstadt, sein Vater in den Sinn
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kam und eine peinliche Angst vor dem Empfang ihm die kleine Reisefreude
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gründlich verdarb. Die Fahrt zum Stuttgarter Examen und die Reise zum
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Eintritt nach Maulbronn fielen ihm wieder ein mit ihrer Spannung und
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ängstlichen Freude. Wozu war nun das alles gewesen? Er wußte so gut wie
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der Ephorus, daß er nicht wiederkommen würde und daß es nun mit Seminar
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und Studium und allen ehrgeizigen Hoffnungen ein Ende hatte. Doch machte
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ihn das jetzt nicht traurig, nur die Angst vor seinem enttäuschten
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Vater, dessen Hoffnungen er betrogen hatte, beschwerte ihm das Herz. Er
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hatte jetzt kein anderes Verlangen, als zu rasten, sich auszuschlafen,
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auszuweinen, auszuträumen und nach all der Quälerei einmal in Ruhe
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gelassen zu werden. Und er fürchtete, daß er das beim Vater zu Haus
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nicht finden werde. Am Ende der Eisenbahnfahrt bekam er heftiges Kopfweh
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und sah nimmer zum Fenster hinaus, obwohl es jetzt durch seine
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Lieblingsgegend ging, deren Höhen und Forste er früher mit Leidenschaft
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durchstreift hatte; und trotz der Angst hätte er beinah das Aussteigen
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am wohlbekannten heimischen Bahnhof versäumt.
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Nun stand er da, mit Schirm und Reisesack, und wurde vom Papa
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betrachtet. Der letzte Bericht des Ephorus hatte dessen Enttäuschung und
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Entrüstung über den mißratenden Sohn in einen fassungslosen Schrecken
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verwandelt. Er hatte sich Hans verfallen und schrecklich aussehend
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vorgestellt und fand ihn nun zwar gemagert und schwächlich, aber doch
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noch heil und auf eigenen Beinen wandelnd. Ein wenig tröstete ihn das;
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das Schlimmste aber war seine verborgene Angst, sein Grauen vor der
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Nervenkrankheit, von welcher Arzt und Ephorus geschrieben hatten. In
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seiner Familie hatte bis jetzt nie jemand Nervenleiden gehabt, man hatte
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von solchen Kranken immer mit verständnislosem Spott oder mit einem
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verächtlichen Mitleiden wie von Irrenhäuslern gesprochen, und nun kam
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ihm sein Hans mit solchen Geschichten heim.
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Am ersten Tag war der Junge froh, nicht mit Vorwürfen empfangen zu
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werden. Dann fiel ihm die scheue, ängstliche Schonung auf, mit der ihn
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sein Vater behandelte und zu der er sich sichtlich gewaltsam zwingen
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mußte. Gelegentlich bemerkte er nun auch, daß er ihn mit sonderbar
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prüfenden Blicken, mit einer unheimlichen Neugierde anschaute, in einem
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gedämpften und verlogenen Ton mit ihm redete und ihn, ohne daß er es
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merken sollte, beobachtete. Er wurde nur noch scheuer und eine
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unbestimmte Angst vor seinem eigenen Zustand begann ihn zu quälen.
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Bei gutem Wetter lag er stundenlang im Walde draußen und es tat ihm gut.
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Ein schwacher Abglanz der ehemaligen Knabenseligkeit überflog dort
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manchmal seine beschädigte Seele: die Freude an Blumen oder Käfern, am
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Belauschen der Vögel oder am Verfolgen einer Wildspur. Doch waren das
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immer nur Augenblicke. Meistens lag er träge im Moos, hatte einen
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schweren Kopf und versuchte vergeblich an irgend etwas zu denken, bis
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die Träume wieder zu ihm traten und ihn weit in andere Räume mitnahmen.
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Kopfweh hatte er fast beständig und wenn er ans Kloster oder an die
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Lateinschule zurückdachte, stürzte sich die Vorstellung der vielen
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Bücher und Lehrgegenstände und Pflichten wie ein grimmiger Alp auf ihn
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und in seinem schmerzenden Schädel führten Livius und Cäsar, Xenophon
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und Rechenaufgaben wirre, peinliche Tänze auf.
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Einmal hatte er folgenden Traum. Er sah seinen Freund Hermann Heilner
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tot auf einer Tragbahre liegen und wollte zu ihm hingehen, aber der
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Ephorus und die Lehrer drängten ihn zurück und versetzten ihm bei jedem
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neuen Vordringen schmerzhafte Püffe. Nicht nur die Seminarprofessoren
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und Repetenten waren dabei, sondern auch der Rektor und die Stuttgarter
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Examinatoren, alle mit erbitterten Gesichtern. Plötzlich war alles
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anders, auf der Bahre lag der ertrunkene Hindu und sein komischer Vater
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mit dem hohen Zylinder stand krummbeinig und wehmütig daneben.
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Und wieder ein Traum: Er lief im Walde auf der Suche nach dem
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entlaufenen Heilner, und er sah ihn immer wieder ferne zwischen den
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Stämmen gehen und sah ihn immer und immer wieder, gerade wenn er ihm
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rufen wollte, verschwinden. Endlich blieb Heilner stehen, ließ ihn
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herankommen und sagte: Du, ich hab' einen Schatz. Dann lachte er
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übermäßig laut und verschwand im Gebüsche.
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Er sah einen schönen, mageren Mann aus einem Schiffe steigen, mit
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stillen, göttlichen Augen und schönen, friedevollen Händen, und er lief
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auf ihn zu. Alles verrann wieder und er besann sich, was es sei, bis ihm
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die Stelle des Evangeliums wieder einfiel, wo es hieß: [Griechisch:
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euthus epignontes auton periedramon] Und nun mußte er sich besinnen, was
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für eine Konjugationsform [Griechisch: periedramon] sei und wie Präsens,
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Infinitiv, Perfektum und Futurum des Verbums lauteten, er mußte es im
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Singularis, Dual und Plural durchkonjugieren und geriet in Angst und
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Schweiß, sobald es haperte. Wenn er alsdann zu sich kam, hatte er ein
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Gefühl, als sei sein Kopf innen überall wund, und wenn sich sein Gesicht
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unwillkürlich zu jenem schläfrigen Lächeln der Resignation und des
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Schuldbewußtseins verzog, hörte er sogleich den Ephorus: »Was soll das
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dumme Lächeln heißen? Sie haben es gerade nötig, auch noch zu lächeln!«
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Im ganzen wollte, trotz einzelnen besseren Tagen, sich kein Fortschritt
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in Hansens Zustand zeigen, es schien eher rückwärts zu gehen. Der
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Hausarzt, der seinerzeit die Mutter behandelt und tot erklärt hatte und
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den manchmal ein wenig gichtleidenden Vater besuchte, machte ein langes
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Gesicht und zögerte von Tag zu Tag, seine Ansicht zu äußern.
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Erst in jenen Wochen merkte Hans, daß er in den zwei letzten
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Lateinschuljahren keine Freunde mehr gehabt habe. Die Kameraden von
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damals waren teils fort, teils sah er sie als Lehrlinge herumlaufen, und
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mit keinem von ihnen verband ihn etwas, bei keinem hatte er etwas zu
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suchen und keiner kümmerte sich um ihn. Zweimal sprach der alte Rektor
|
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ein paar freundliche Worte mit ihm, auch der Lateinlehrer und der
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Stadtpfarrer nickten ihm auf der Straße wohlwollend zu, aber eigentlich
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ging Hans sie nichts mehr an. Er war kein Gefäß mehr, in das man
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allerlei hineinstopfen konnte, kein Acker für vielerlei Samen mehr; es
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lohnte sich nimmer, Zeit und Sorgfalt an ihn zu wenden.
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Vielleicht wäre es gut gewesen, wenn der Stadtpfarrer sich seiner ein
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wenig angenommen hätte. Aber was sollte er tun? Was er geben konnte, die
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|
Wissenschaft oder wenigstens das Suchen nach ihr, hatte er dem Jungen
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seinerzeit nicht vorenthalten, und mehr hatte er eben nicht. Er war
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keiner von den Pfarrern, in deren Latein man begründete Zweifel setzt
|
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und deren Predigten aus wohlbekannten Quellen geschöpft sind, zu denen
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man aber in bösen Zeiten gerne geht, weil sie gute Augen und freundliche
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Worte für alles Leiden haben. Auch Vater Giebenrath war kein Freund oder
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Tröster, wenn er sich auch alle Mühe gab, den Ärger seiner Enttäuschung
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über Hans zu verbergen.
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So fühlte dieser sich verlassen und ungeliebt, saß im kleinen Garten an
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der Sonne oder lag im Wald und hing seinen Träumereien oder quälerischen
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Gedanken nach. Mit Lesen konnte er sich nicht helfen, da ihm dabei immer
|
||
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bald Kopf und Augen schmerzten und weil aus jedem seiner Bücher ihm
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sogleich beim Aufschlagen das Gespenst der Klosterzeit und des dortigen
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Angstgefühls auferstand, ihn in luftlose bange Traumwinkel trieb und
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dort mit glühendem Blicke festbannte.
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* * * * *
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In dieser Not und Verlassenheit trat dem kranken Knaben ein anderes
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Gespenst als trügerischer Tröster nahe und wurde ihm allmählich vertraut
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||
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und notwendig. Das war der Gedanke an den Tod. Es war ja leicht, sich
|
||
|
etwa eine Schießwaffe zu verschaffen oder irgendwo im Walde eine
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||
|
Seilschlinge anzubringen. Fast jeden Tag begleiteten ihn diese
|
||
|
Vorstellungen auf seinen Gängen, er betrachtete sich einzelne, still
|
||
|
gelegene Örtlein und fand schließlich einen Platz, wo es sich schön
|
||
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sterben ließ und den er endgültig zu seiner Sterbestätte bestimmte. Er
|
||
|
suchte ihn immer wieder auf, saß da und fand eine seltsame Freude daran,
|
||
|
sich vorzustellen, daß man ihn dort nächstens einmal tot finden würde.
|
||
|
Der Ast für den Strick war bestimmt und auf seine Stärke geprüft, keine
|
||
|
Schwierigkeiten standen mehr im Wege; allmählich wurde auch, mit
|
||
|
längeren Pausen, ein kurzer Brief an den Vater und ein sehr langer an
|
||
|
Hermann Heilner geschrieben, die man bei der Leiche finden sollte.
|
||
|
|
||
|
Die Vorbereitungen und das Gefühl der Sicherheit übten einen wohltätigen
|
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|
Einfluß auf sein Gemüt. Unter dem verhängnisvollen Aste sitzend, hatte
|
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|
er manche Stunden, in denen der Druck von ihm wich und fast ein
|
||
|
freudiges Wohlgefühl über ihn kam. Auch der Vater merkte die Besserung
|
||
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seines Zustandes und Hans sah mit ironischem Vergnügen zu, wie jener
|
||
|
sich einer Stimmung freute, deren Ursache doch nur die Gewißheit seines
|
||
|
baldigen Endes war.
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||
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|
Warum er nicht schon längst an jenem schönen Aste hing, wußte er selbst
|
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nicht recht. Der Gedanke war gefaßt, sein Tod war eine beschlossene
|
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|
Sache, dabei war ihm einstweilen wohl und er verschmähte nicht, in
|
||
|
diesen letzten Tagen den schönen Sonnenschein und das einsame Träumen
|
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noch auszukosten, wie man es gern vor weiten Reisen tut. Abreisen konnte
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|
er ja jeden Tag, es war alles in Ordnung. Auch war es ihm eine besondere
|
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bittere Wonne, sich freiwillig noch ein wenig in der alten Umgebung
|
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aufzuhalten und den Leuten ins Gesicht zu sehen, die von seinen
|
||
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gefährlichen Entschlüssen keine Ahnung hatten. So oft er dem Arzt
|
||
|
begegnete, mußte er denken: »Na du wirst schauen!«
|
||
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Das Schicksal ließ ihn sich seiner finsteren Absichten erfreuen und
|
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schaute zu, wie er aus dem Kelch des Todes täglich ein paar Tropfen der
|
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Lust und Lebenskraft genoß. Es mochte ja wenig an diesem verstümmelten
|
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jungen Wesen gelegen sein, aber seinen Kreis sollte doch erst es
|
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|
vollenden und nicht vom Plan verschwinden, ehe es noch ein wenig von der
|
||
|
bitteren Süße des Lebens geschmeckt hätte.
|
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Die unentrinnbaren quälenden Vorstellungen wurden seltener und wichen
|
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|
einem müden Sichgehenlassen, einer schmerzlos trägen Stimmung, in
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||
|
welcher Hans die Stunden und Tage gedankenlos vorübertreiben sah,
|
||
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gleichmütig ins Blaue schaute und zuweilen schlafwandelnd oder kindisch
|
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zu sein schien. In träger Dämmerstimmung saß er einmal im Gärtchen unter
|
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|
der Tanne und summte, ohne es recht zu wissen, immer wieder einen alten
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|
Vers vor sich hin, der ihm, von der Lateinschule her, gerade eingefallen
|
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war:
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Ach ich bin so müde,
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Ach ich bin so matt,
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|
Hab kein Geld im Portemonnaie
|
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|
Und auch keins im Sack.
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Er summte ihn nach alter Melodie und dachte nichts dabei, als er ihn zum
|
||
|
zwanzigstenmal anstimmte. Sein Vater aber stand nahe am Fenster, hörte
|
||
|
zu und hatte einen großen Schrecken. Seiner trockenen Natur war dieser
|
||
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gedankenlose, wohlig stumpfsinnige Singsang völlig unverständlich und er
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||
|
deutete ihn seufzend als ein Zeichen hoffnungsloser Geistesschwäche. Von
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|
da an beobachtete er den Jungen noch ängstlicher, der merkte es
|
||
|
natürlich und litt darunter; doch kam er noch immer nicht dazu, den
|
||
|
Strick mitzunehmen und von jenem starken Aste Gebrauch zu machen.
|
||
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||
|
Inzwischen war die heiße Jahreszeit gekommen und seit dem Landexamen und
|
||
|
den damaligen Sommerferien schon ein Jahr vergangen. Hans dachte
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||
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gelegentlich daran, doch ohne sonderliche Bewegung; er war ziemlich
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|
stumpf geworden. Gerne hätte er wieder angefangen zu angeln, doch wagte
|
||
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er nicht den Vater darum zu bitten. Es plagte ihn, sooft er am Wasser
|
||
|
stand, und manchmal verweilte er lang am Ufer, wo niemand ihn sah, und
|
||
|
folgte mit heißen Augen den Bewegungen der dunkeln, lautlos schwimmenden
|
||
|
Fische. Gegen Abend ging er täglich eine Strecke flußaufwärts zum Baden
|
||
|
und da er dabei stets an dem kleinen Haus des Inspektors Geßler vorüber
|
||
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mußte, entdeckte er zufällig, daß die Emma Geßler, für die er vor drei
|
||
|
Jahren geschwärmt hatte, wieder zu Hause sei. Neugierig sah er ihr ein
|
||
|
paarmal nach, aber sie gefiel ihm nimmer so gut wie früher. Damals war
|
||
|
sie ein zartgliedriges, sehr feines Mädelchen gewesen, jetzt war sie
|
||
|
gewachsen, hatte eckige Bewegungen und trug eine unkindliche, moderne
|
||
|
Frisur, die sie vollends ganz entstellte. Auch die langen Kleider
|
||
|
standen ihr nicht und ihre Versuche, damenhaft auszusehen, waren
|
||
|
entschieden unglücklich. Hans fand sie lächerlich, zugleich aber tat es
|
||
|
ihm leid, wenn er daran dachte, wie sonderbar süß und dunkel und warm
|
||
|
ihm damals, sooft er sie sah, zumut gewesen war. Überhaupt -- damals war
|
||
|
doch alles anders gewesen, so viel schöner, so viel heiterer, so viel
|
||
|
lebendiger! Seit langer Zeit wußte er von nichts als von Latein,
|
||
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Geschichte, Griechisch, Examen, Seminar und Kopfweh. Damals aber hatte
|
||
|
es Bücher mit Märchen und Bücher mit Räubergeschichten gegeben, da hatte
|
||
|
er im Gärtchen eine selberverfertigte Hammermühle laufen gehabt und
|
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|
abends die abenteuerlichen Geschichten der Liese im Nascholdischen
|
||
|
Torweg mit angehört, da hatte er eine Zeitlang den alten Nachbar
|
||
|
Großjohann, genannt Garibaldi, für einen Raubmörder angesehen und von
|
||
|
ihm geträumt und hatte das ganze Jahr hindurch sich jeden Monat auf
|
||
|
irgend etwas gefreut, bald auf das Heuen, bald auf den Kleeschnitt, dann
|
||
|
wieder auf das erste Angeln oder Krebsen, auf Hopfenernte,
|
||
|
Pflaumenschütteln, Kartoffelfeuer, auf den Beginn des Dreschens, und
|
||
|
zwischenein noch extra auf jeden lieben Sonn- und Feiertag. Da hatte es
|
||
|
noch eine Menge von Dingen gegeben, die ihn mit geheimnisvollem Zauber
|
||
|
anzogen: Häuser, Gassen, Treppen, Scheunenböden, Brunnen, Zäune,
|
||
|
Menschen und Tiere aller Art waren ihm lieb und bekannt oder rätselhaft
|
||
|
verlockend gewesen. Beim Hopfenpflücken hatte er mitgeholfen und
|
||
|
zugehört wie die großen Mädchen sangen, und hatte sich Verse aus ihren
|
||
|
Liedern gemerkt, die meisten zum Lachen drollig und einige aber auch
|
||
|
merkwürdig klagend, daß es einen beim Zuhören im Halse würgte.
|
||
|
|
||
|
Das alles war untergesunken und zu Ende gewesen, ohne daß er es damals
|
||
|
gleich merkte. Zuerst hatten die Abende bei der Liese aufgehört, dann
|
||
|
das Goldfallenfangen am Sonntag vormittag, dann das Märchenlesen, und so
|
||
|
eins ums andere bis aufs Hopfenpflücken und die Hammermühle im Garten. O
|
||
|
wo war das alles hingekommen?
|
||
|
|
||
|
Und es geschah, daß der frühreife Jüngling nun in seinen kranken Tagen
|
||
|
eine unwirkliche zweite Kinderzeit erlebte. Sein von den Schulmännern um
|
||
|
die Kindheit bestohlenes Gemüt floh jetzt mit plötzlich ausbrechender
|
||
|
Sehnsucht in jene schönen dämmernden Jahre zurück und irrte verzaubert
|
||
|
in einem Walde von Erinnerungen umher, deren Stärke und Deutlichkeit
|
||
|
vielleicht krankhaft war. Er erlebte sie alle mit nicht weniger Wärme
|
||
|
und Leidenschaft, als er sie früher in Wirklichkeit erlebt hatte, die
|
||
|
betrogene und vergewaltigte Kindheit brach wie eine lang gehemmte Quelle
|
||
|
in ihm auf.
|
||
|
|
||
|
Wenn ein Baum entgipfelt wird, treibt er gern in Wurzelnähe neue
|
||
|
Sprossen hervor, und so kehrt oft auch eine Seele, die in der Blüte
|
||
|
krank wurde und verdarb, in die frühlinghafte Zeit der Anfänge und
|
||
|
ahnungsvollen Kindheit zurück, als könnte sie dort neue Hoffnungen
|
||
|
entdecken und den abgebrochenen Lebensfaden aufs neue anknüpfen. Die
|
||
|
Wurzelsprossen geilen saftig und eilig auf, aber es ist lediglich ein
|
||
|
Scheinleben und es wird nie wieder ein Baum daraus.
|
||
|
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||
|
Auch Hans Giebenrath erging es so und darum ist es notwendig, ihm auf
|
||
|
seinen Traumwegen im Kinderlande ein wenig zu folgen.
|
||
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|
||
|
Das Giebenrathsche Haus stand nahe bei der alten steinernen Brücke und
|
||
|
bildete die Ecke zwischen zwei sehr verschiedenartigen Gassen. Die eine,
|
||
|
zu welcher das Haus gerechnet wurde und gehörte, war die längste,
|
||
|
breiteste und vornehmste der Stadt und hieß Gerbergasse. Die zweite
|
||
|
führte jäh bergan, war kurz, schmal und elend und hieß »zum Falken«,
|
||
|
nach einem uralten, längst eingegangenen Wirtshaus, dessen Schild ein
|
||
|
Falke gewesen war.
|
||
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|
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|
In der Gerbergasse wohnten Haus an Haus lauter gute, solide Altbürger,
|
||
|
Leute mit eigenen Häusern, eigenen Kirchplätzen und eigenen Gärten, die
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||
|
sich hinterwärts in Terrassen steil bergan zogen und deren Zäune an den
|
||
|
Anno siebzig errichteten, mit gelbem Ginster bewachsenen Bahndamm
|
||
|
stießen. An Vornehmheit konnte mit der Gerbergasse nur noch der
|
||
|
Marktplatz wetteifern, wo Kirche, Oberamt, Gericht, Rathaus und Dekanat
|
||
|
standen und in ihrer reinlichen Würde durchaus einen städtisch noblen
|
||
|
Eindruck machten. Amtshäuser hatte nun zwar die Gerbergasse keine, aber
|
||
|
alte und neue Bürgerwohnungen mit stattlichen Haustüren, hübsche
|
||
|
altmodische Fachwerkhäuschen, nette helle Giebel; und es verlieh ihr
|
||
|
eine Fülle von Freundlichkeit, Behagen und Licht, daß sie nur eine
|
||
|
Häuserreihe besaß, denn jenseits der Straße lief am Fuße einer mit
|
||
|
Balkenbrüstungen versehenen Mauer der Fluß dahin.
|
||
|
|
||
|
War die Gerbergasse lang, breit, licht, geräumig und vornehm, so war der
|
||
|
»Falken« das Gegenteil davon. Hier standen schiefe finstere Häuser mit
|
||
|
fleckigem und bröckelndem Verputz, vorhängenden Giebeln, die an
|
||
|
eingetriebene Hüte erinnerten, vielfach geborstenen und geflickten Türen
|
||
|
und Fenstern, mit krummen Kaminen und schadhaften Dachrinnen. Die Häuser
|
||
|
raubten einander Raum und Licht und die Gasse war schmal, wunderlich
|
||
|
gebogen und in eine ewige Dämmerung gehüllt, die bei Regenwetter oder
|
||
|
nach Sonnenuntergang sich in eine feuchte, bösartige Finsternis
|
||
|
verwandelte. Vor allen Fenstern war an Stangen und Schnüren stets eine
|
||
|
Menge Wäsche aufgehängt; denn so klein und elend die Gasse war, so viele
|
||
|
Familien hausten darin, von all den Aftermietern und Schlafgängern gar
|
||
|
nicht zu reden. Alle Winkel der schiefen, alternden Häuser waren dicht
|
||
|
bewohnt und Armut, Laster und Krankheit waren dort ansässig. Polizei und
|
||
|
Spital hatte mit der ganzen übrigen Stadt nicht so viel zu tun wie mit
|
||
|
den paar Falkenhäusern. Wenn der Typhus ausbrach, so war es dort, wenn
|
||
|
einmal ein Totschlag geschah, so war es auch dort und wenn in der Stadt
|
||
|
ein Diebstahl vorkam, suchte man zuerst im Falken. Umherziehende
|
||
|
Hausierer hatten dort ihre Absteigequartiere, unter ihnen der drollige
|
||
|
Putzpulverhändler Hottehotte und der Scherenschleifer Adam Hittel, dem
|
||
|
man alle Verbrechen und Laster nachsagte.
|
||
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* * * * *
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||
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In seinen ersten Schuljahren war Hans im Falken ein häufiger Gast
|
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gewesen. Zusammen mit einer zweifelhaften Rotte von strohblonden,
|
||
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abgerissenen Buben hatte er die Mordgeschichten der berüchtigten Lotte
|
||
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Frohmüller angehört. Diese war das geschiedene Weib eines kleinen
|
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Gastwirts und hatte fünf Jahre Zuchthaus hinter sich; sie war seinerzeit
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eine bekannte Schönheit gewesen, hatte unter den Fabriklern eine große
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Zahl von Schätzen gehabt und zu öfteren Skandalen und Messerstechereien
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Anlaß gegeben. Nun lebte sie einsam und brachte ihre Abende nach
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Fabrikschluß mit Kaffeekochen und Geschichtenerzählen zu; dabei stand
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ihre Türe weit offen, und außer den Weibern und jungen Arbeitern hörte
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von der Schwelle aus stets auch eine Schar von Nachbarskindern ihr mit
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Entzücken und Grausen zu. Auf dem schwarzen Steinherdchen kochte das
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Wasser im Kessel, eine Unschlittkerze brannte daneben und beleuchtete
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zusammen mit dem blauen Kohlenfeuerchen den überfüllten, finsteren Raum
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mit abenteuerlichem Flackern, die Schatten der Zuhörer in ungeheuren
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Maßen an die Wand und Decke werfend und mit gespenstiger Bewegung
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erfüllend.
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Dort machte der achtjährige Knabe die Bekanntschaft der beiden Brüder
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Finkenbein und unterhielt etwa ein Jahr lang, einem strengen väterlichen
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Verbot zum Trotz, eine Freundschaft mit ihnen. Sie hießen Dolf und Emil
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und waren die gerissensten Gassenbuben der Stadt, durch Obstdiebstähle
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und kleine Waldfrevel berühmt und vollendete Meister in unzähligen
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Geschicklichkeiten und Streichen. Sie handelten nebenher mit Vogeleiern,
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Bleikugeln, jungen Raben, Staren und Hasen, legten verbotenerweise
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Nachtangeln und fühlten sich in allen Gärten der Stadt wie zu Hause,
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denn kein Zaun war so spitzig und keine Mauer so dicht mit Glasscherben
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besteckt, daß sie nicht leicht hinübergekommen wären.
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Vor allem aber war es Hermann Rechtenheil, der im »Falken« wohnte und an
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welchen Hans sich anschloß. Er war eine Waise und ein krankes,
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frühreifes, ungewöhnliches Kind. Weil sein eines Bein viel zu kurz war,
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mußte er beständig am Stock gehen und konnte nicht an den Gassenspielen
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teilnehmen. Er war schmal und hatte ein farbloses Leidensgesicht mit
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vorzeitig herbem Munde und allzu spitzem Kinn. In allerlei
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Handfertigkeiten war er ungemein geschickt, und namentlich hatte er eine
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gewaltige Leidenschaft für das Angeln, die er auf Hans übertrug. Dieser
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besaß damals noch keine Fischkarte, sie angelten aber trotzdem heimlich
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an versteckten Orten, und wenn Jagen eine Freude ist, so ist bekanntlich
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Wildern ein Hochgenuß. Der krumme Rechtenheil lehrte Hans die richtigen
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Ruten schneiden, Roßhaar flechten, Schnüre färben, Fadenschlingen
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drehen, Angelhaken schärfen. Er lehrte ihn auch aufs Wetter schauen, das
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Wasser beobachten und mit Kleie trüben, die rechten Köder wählen und sie
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richtig befestigen, er lehrte ihn die Fischarten unterscheiden, die
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Fische beim Angeln belauschen, die Schnur in richtiger Tiefe halten. Er
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teilte ihm ohne Worte und nur durch sein Beispiel und Dabeisein die
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Handgriffe und das feine Gefühl für den Augenblick des Anziehens oder
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Nachlassens mit und jene seltsame Empfindlichkeit der Hand, ohne welche
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kein feines Angeln möglich ist. Die schönen, in Läden käuflichen Ruten,
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Korke und Glasschnüre und all das künstliche Angelzeug verachtete und
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verhöhnte er mit Eifer und überzeugte Hans davon, daß man unmöglich mit
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einer Angel fischen könne, die man nicht in allen Teilen selber gemacht
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und zusammengesetzt habe.
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Mit den Gebrüdern Finkenbein kam Hans in Zorn auseinander; der stille,
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lahme Rechtenheil verließ ihn ohne Hader. Er streckte sich eines
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Februartages in sein ärmliches Bettlein, legte seinen Krückstock über
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die Kleider auf den Stuhl, fing an zu fiebern und starb schnell und
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still hinweg; die Falkengasse vergaß ihn sogleich und nur Hans behielt
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ihn noch lange in gutem Andenken.
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Mit ihm war aber die Zahl der merkwürdigen Falkenbewohner noch lange
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nicht erschöpft. Wer kannte nicht den wegen Trunksucht entlassenen
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Briefträger Rötteler, der alle vierzehn Tage besoffen auf der Straße lag
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oder nächtliche Skandale verführte, sonst aber gut wie ein Kind war und
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beständig voll Wohlwollen lächelte? Er ließ Hans aus seiner ovalen Dose
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schnupfen, ließ sich gelegentlich Fische von ihm schenken, briet sie in
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Butter und lud Hans zum Mitessen ein. Er besaß einen ausgestopften
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Bussard mit Glasaugen und eine alte Spieluhr, die mit dünnen, feinen
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Tönchen veraltete Tanzweisen aufspielte. Und wer kannte nicht den
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uralten Mechaniker Porsch, der immer Manschetten trug, auch wenn er
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barfuß ging? Als der Sohn eines strengen Landschullehrers alter Schule
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konnte er die halbe Bibel und ein paar Ohren voll Sprichwörter und
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moralische Sentenzen auswendig; aber weder dies noch sein schneeweißes
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Haar hinderte ihn, vor allen Weibern den Schwerenöter zu spielen und
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sich häufig zu betrinken. Wenn er ein bißchen geladen hatte, saß er gern
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auf dem Prellstein an der Ecke des Giebenrathschen Hauses, rief alle
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Vorübergehenden mit Namen an und bediente sie reichlich mit Sprüchen.
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»Hans Giebenrath junior, mein teurer Sohn, höre was ich dir sage! Wie
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spricht Sirach? Wohl dem, der nicht bösen Rat gibt und davon nicht ein
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böses Gewissen hat! Gleichwie die grünen Blätter auf einem schönen Baum,
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etliche abfallen, etliche wieder wachsen, also geht es mit den Leuten
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auch: etliche sterben, etliche werden geboren. So, nun kannst du
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heimgehen, du Seehund.«
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Dieser alte Porsch stak, seiner frommen Sprüche unbeschadet, voll von
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dunklen und sagenhaften Berichten über Gespenster und dergleichen. Er
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kannte die Orte, wo solche umgingen und schwankte immer zwischen Glauben
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und Unglauben an seine eigenen Geschichten. Meistens begann er sie in
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zweiflerischem, prahlerisch wegwerfendem Ton, als mache er sich über die
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Geschichte und über die Zuhörer lustig, aber allmählich, während des
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Erzählens, duckte er sich ängstlich, senkte seine Stimme mehr und mehr
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und endete in einem leisen, eindringlichen, gruseligen Flüsterton.
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Wie viel Unheimliches, Undurchschauliches, dunkel Anreizendes enthielt
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die arme kleine Gasse! In ihr hatte auch, nachdem sein Geschäft
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eingegangen und seine verwahrloste Werkstatt vollends verlottert war,
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der Schlosser Brendle gewohnt. Er war halbe Tage lang an seinem
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Fensterchen gesessen und hatte finster in die lebhafte Gasse geblickt
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und zuweilen, wenn eins der abgerissenen, ungewaschenen Kinder aus den
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Nachbarhäusern ihm in die Hände fiel, hatte er es mit wüster
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Schadenfreude gequält, an den Ohren und Haaren gerissen und ihm den
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ganzen Leib blau gekniffen. Eines Tages aber hing er an seiner Treppe,
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an einem Stück Zinkdraht erhängt, und sah so scheußlich aus, daß niemand
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sich zu ihm getraute, bis der alte Mechaniker Porsch von hinten her den
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Draht mit einer Blechschere abschnitt, worauf die Leiche mit
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heraushängender Zunge vornüber fiel und die Treppe hinunterpolterte,
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mitten in die entsetzten Zuschauer hinein.
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So oft Hans aus der hellen, breiten Gerbergasse in den finstern,
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feuchten Falken trat, überkam ihn mit der seltsamen stickigen Luft eine
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wonnevoll grausige Beklemmung, eine Mischung von Neugierde, Furcht,
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schlechtem Gewissen und seliger Abenteuerahnung. Der Falken war der
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einzige Ort, an welchem etwa noch ein Märchen, ein Wunder, ein
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unerhörtes Schrecknis passieren konnte, wo Zauberei und Gespensterwesen
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glaubhaft und wahrscheinlich war und wo man dieselben schmerzhaft
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köstlichen Schauder empfinden konnte wie beim Lesen der Sagen und der
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skandalösen Reutlinger Volksbücher, welche von den Lehrern konfisziert
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wurden und die Schandtaten und Bestrafungen des Sonnenwirtle, des
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Schinderhannes, des Messerkarle, des Postmichels und ähnlicher dunkler
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Helden, Schwerverbrecher und Abenteurer berichteten.
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Außer dem Falken gab es aber noch einen Ort, wo es anders war als
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überall, wo man etwas erleben und hören und sich auf dunklen Böden und
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in ungewöhnlichen Räumen verlieren konnte. Das war die nahe, große
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Gerberei, das alte riesige Haus, wo auf halbdunklen Böden die großen
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Häute hingen, wo es im Keller verdeckte Gruben und verbotene Gänge gab
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und wo abends die Liese allen Kindern ihre schönen Märchen erzählte. Es
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ging dort stiller, freundlicher und menschlicher zu als im Falken
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drüben, aber nicht minder rätselhaft. Das Walten der Gerbergesellen in
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den Gruben, im Keller, im Lohgarten und auf den Estrichen war seltsam
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und eigentümlich, die großen gähnenden Räume waren still und ebenso
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anziehend wie unheimlich, der gewaltige und mürrische Hausherr ward wie
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ein Menschenfresser gefürchtet und gescheut und die Liese ging in dem
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merkwürdigen Hause umher wie eine Fee, allen Kindern, Vögeln, Katzen und
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Hündlein eine Schützerin und Mutter, voll von Güte und voll von
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wunderseltsamen Märchen und Liederversen.
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In dieser ihm längst entfremdeten Welt bewegten sich jetzt die Gedanken
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und Träume des Knaben. Aus seiner großen Enttäuschung und
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Hoffnungslosigkeit floh er in die vergangene gute Zeit zurück, da er
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noch voll von Hoffnungen gewesen war und die Welt vor sich hatte stehen
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sehen wie einen riesengroßen Zauberwald, welcher grausige Gefahren,
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verwunschene Schätze und smaragdene Schlösser in seiner
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undurchdringlichen Tiefe verbarg. Ein kleines Stück war er in diese
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Wildnis vorgedrungen, aber er war müde geworden, ehe die Wunder kamen,
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und stand nun wieder am rätselvoll dämmernden Eingang, diesmal als ein
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Ausgeschlossener, in müßiger Neugier.
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Ein paarmal suchte Hans den »Falken« wieder auf. Er fand daselbst die
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alte Dämmerung und den alten üblen Geruch, die alten Winkel und
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lichtlosen Treppenhäuser; es saßen wieder greise Männer und Weiber vor
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den Türen und ungewaschene, strohblonde Kinder trieben sich mit Geschrei
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herum. Der Mechaniker Porsch war noch älter geworden und kannte Hans
|
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nicht mehr und antwortete auf seinen schüchternen Gruß nur mit einem
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höhnischen Meckern. Der Großjohann, genannt Garibaldi, war gestorben und
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ebenso die Lotte Frohmüller. Der Briefträger Rötteler war noch da. Er
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klagte, die Buben hätten ihm seine Spieluhr kaputt gemacht, er bot ihm
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zu schnupfen an und versuchte dann ihn anzubetteln; schließlich erzählte
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er von den Brüdern Finkenbein, der eine sei jetzt in der Zigarrenfabrik
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und saufe bereits wie ein Alter, der andere sei nach einer
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Kirchweihstecherei auf und davon und fehle schon seit einem Jahr. Alles
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machte einen kläglichen und kümmerlichen Eindruck.
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Und einmal ging er am Abend in die Gerberei hinüber. Es zog ihn durch
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den Torweg und über den feuchten Hof, als läge in dem großen alten Hause
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seine Kindheit verborgen, mit allen ihren verloren gegangenen Freuden.
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Über die krumme Treppe und den gepflasterten Öhrn kam er an die finstere
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Treppe, tastete sich zum Estrich durch, wo die Häute aufgespannt hingen,
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und sog dort mit dem scharfen Ledergeruch eine ganze Wolke plötzlich
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hervorstürmender Erinnerungen ein. Er stieg wieder herab und suchte den
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hinteren Hof auf, wo die Lohgruben und die schmal überdachten, hohen
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Gerüste zum Trocknen der Lohkäse waren. Richtig saß auf der Mauerbank
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die Liese, hatte einen Korb Erdäpfel zum Schälen vor und ein paar
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horchende Kinder um sich herum.
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Hans blieb in der dunklen Türe stehen und lauschte hinüber. Ein großer
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Friede erfüllte den eindämmernden Gerbergarten und außer dem schwachen
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Rauschen des Flusses, der hinter der Hofmauer vorüberzog, hörte man nur
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das Messer der Liese beim Kartoffelschälen knirschen und ihre Stimme,
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die erzählte. Die Kinder saßen ganz ruhig kauernd und regten sich kaum.
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Sie erzählte die Geschichte vom Sankt Christoffel, wie in der Nacht ihn
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eine Kindesstimme über den Strom ruft.
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Hans hörte eine Weile zu, dann ging er leise durch den schwarzen Öhrn
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zurück und nach Hause. Er spürte, daß er doch nicht wieder ein Kind
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werden und abends im Gerbergarten bei der Liese sitzen konnte, und er
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mied nun wieder das Gerberhaus so gut wie den Falken.
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Sechstes Kapitel
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Es ging schon stark in den Herbst hinein. Aus den schwarzen
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Tannenwäldern leuchteten die vereinzelten Laubbäume gelb und rot wie
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Fackeln, die Schluchten hatten schon starke Nebel und der Fluß dampfte
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morgens in der Kühle.
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Noch immer streifte der blasse Exseminarist tagtäglich im Freien umher,
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war unlustig und müde und floh das bißchen Umgang, das er hätte haben
|
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|
können. Der Arzt verschrieb Tropfen, Lebertran, Eier und kalte
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Waschungen.
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Es war kein Wunder, daß alles nicht recht helfen wollte. Jedes gesunde
|
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Leben muß einen Inhalt und ein Ziel haben und das war dem jungen
|
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Giebenrath verloren gegangen. Nun war sein Vater entschlossen, ihn
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entweder Schreiber werden oder ein Handwerk lernen zu lassen. Der Junge
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war zwar noch schwächlich und sollte erst noch ein wenig mehr zu Kräften
|
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kommen, doch konnte man jetzt nächstens daran denken, Ernst mit ihm zu
|
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machen.
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Seit die ersten verwirrenden Eindrücke sich gemildert hatten und seit er
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auch an den Selbstmord selber nicht mehr glaubte, war Hans aus den
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erregten und wechselreichen Angstzuständen in eine gleichmäßige
|
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Melancholie hinübergeraten, in die er langsam und wehrlos wie in einen
|
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weichen Schlammboden versank.
|
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Nun lief er in den Herbstfeldern umher und erlag dem Einfluß der
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Jahreszeit. Die Neige des Herbstes, der stille Blätterfall, das
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Braunwerden der Wiesen, der dichte Frühnebel, das reife, müde
|
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Sterbenwollen der Vegetation trieb ihn, wie alle Kranken, in schwere,
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hoffnungslose Stimmungen und traurige Gedanken. Er fühlte den Wunsch,
|
||
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mit zu vergehen, mit einzuschlafen, mit zu sterben, und litt darunter,
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daß seine Jugend dem widersprach und mit stiller Zähigkeit am Leben
|
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hing.
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Er schaute den Bäumen zu, wie sie gelb wurden, braun wurden, kahl
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wurden, und dem milchweißen Nebel, der aus den Wäldern rauchte, und den
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||
|
Gärten, in welchen nach der letzten Obstlese das Leben erlosch und
|
||
|
niemand mehr nach den farbig verblühenden Astern sah, und dem Flusse, in
|
||
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welchem Bad und Fischerei ein Ende hatte, der mit dürren Blättern
|
||
|
bedeckt war und an dessen frostigen Ufern nur noch die zähen Gerber
|
||
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aushielten. Seit einigen Tagen führte er Massen von Mosttrebern mit
|
||
|
sich, denn auf den Kelterplätzen und in allen Mühlen war man jetzt
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fleißig am Mosten und in der Stadt zog der Geruch von Obstsaft leise
|
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gärend durch alle Gassen.
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In der untern Mühle hatte auch der Schuhmacher Flaig eine kleine Presse
|
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gemietet und lud Hans zum Mosten ein.
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|
Auf dem Vorplatz der Mühle standen große und kleine Mostkeltern, Wagen,
|
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Körbe und Säcke voll Obst, Zuber, Bütten, Kübel und Fässer, ganze Berge
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von braunen Trebern, hölzerne Hebel, Schubkarren, leere Gefährte. Die
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||
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Keltern arbeiteten, knirschten, quietschten, stöhnten, meckerten. Die
|
||
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meisten waren grün lackiert und dies Grün mit dem Braungelb der Treber,
|
||
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den Farben der Apfelkörbe, dem hellgrünen Fluß, den barfüßigen Kindern
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und der klaren Herbstsonne zusammen gab jedem, der es sah, einen
|
||
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verlockenden Eindruck von Freude, Lebenslust und Überfluß. Das Knirschen
|
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|
der zermalmten Äpfel klang herb und appetitreizend; wer herzukam und es
|
||
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hörte, mußte schnell einen Apfel in die Faust nehmen und anbeißen. Aus
|
||
|
den Röhren floß in dickem Strahl der süße junge Most, rotgelb und in der
|
||
|
Sonne lachend; wer herzukam und es ansah, mußte um ein Glas bitten und
|
||
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schnell eine Probe kosten, dann blieb er stehen, bekam feuchte Augen und
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||
|
fühlte einen Strom von Süßigkeit und Wohlbehagen durch sich
|
||
|
hindurchgehen. Und dieser süße Most erfüllte die Luft weitherum mit
|
||
|
seinem frohen, starken, köstlichen Geruch. Dieser Duft ist eigentlich
|
||
|
das Feinste vom ganzen Jahr, der Inbegriff von Reife und Ernte, und es
|
||
|
ist gut, ihn so vor dem nahen Winter einzusaugen, denn dabei erinnert
|
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|
man sich mit Dankbarkeit an eine Menge von guten, wunderbaren Dingen: an
|
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sanfte Maienregen, rauschende Sommerregen, kühlen Herbstmorgentau, an
|
||
|
zärtlichen Frühlingssonnenschein und glastend heißen Sommerbrand, an die
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||
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weiß und rosenrot leuchtende Blust und an den reifen, rotbraunen Glanz
|
||
|
der Obstbäume vor der Ernte und zwischenein an alles Schöne und
|
||
|
Freudige, was so ein Jahreslauf mitgebracht hat.
|
||
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||
|
Das waren Glanztage für jedermann. Die Reichen und Protzen, so weit sie
|
||
|
sich herabließen, persönlich zu erscheinen, wogen ihren feinen, feisten
|
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Apfel in der Hand, zählten ihr Dutzend Säcke oder mehr, probierten mit
|
||
|
einem silbernen Taschenbecher und ließen jeden hören, in ihren Most käme
|
||
|
kein Tropfen Wasser. Die Armen hatten nur einen einzigen Obstsack,
|
||
|
probierten mit Gläsern oder irdenen Schüsseln, taten Wasser dazu und
|
||
|
waren darum nicht minder stolz und fröhlich. Wer aus irgendwelchen
|
||
|
Gründen gar nicht mosten konnte, der lief bei seinen Bekannten und
|
||
|
Nachbarn von Presse zu Presse, bekam überall ein Glas eingeschenkt und
|
||
|
einen Apfel eingesteckt und bewies durch Kennersprüche, daß er auch sein
|
||
|
Teil von der Sache verstehe. Die vielen Kinder aber, arm oder reich,
|
||
|
liefen mit kleinen Bechern herum, hatten jedes einen angebissenen Apfel
|
||
|
und jedes ein Stück Brot in der Hand, denn es ging seit alten Zeiten die
|
||
|
unbegründete Sage, wenn man beim Mosten ordentlich Brot esse, bekomme
|
||
|
man nachher kein Bauchweh.
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||
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|
||
|
Hundert Stimmen schrien durcheinander, vom Kinderspektakel gar nicht zu
|
||
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reden, und alle diese Stimmen waren geschäftig, aufgeregt und fröhlich.
|
||
|
|
||
|
»Komm, Hannes, daher! Zu mir! Bloß a Glas!«
|
||
|
|
||
|
»Dank recht scheen, i hab' schon 's Grimmen.«
|
||
|
|
||
|
»Was hast für'n Zentner 'zahlt?«
|
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|
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||
|
»Vier Mark. Aber prima. Da probier'!«
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||
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|
Zuweilen passierte ein kleines Malheur. Ein Sack Äpfel ging zu früh auf
|
||
|
und alles rollte auf den Boden.
|
||
|
|
||
|
»Sternsakrament, meine Äpfel! Helfet auch, Leute!«
|
||
|
|
||
|
Alles half auflesen und nur ein paar Lausbuben versuchten dabei sich zu
|
||
|
bereichern.
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||
|
|
||
|
»Nix einstecken, ihr Luder! Fressen könnet ihr soviel 'neingeht, aber
|
||
|
nix einstecken. Wart, Gutedel du, dalketer!«
|
||
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|
||
|
»He, Herr Nachbar, no net so stolz! Da probieren Se emol!«
|
||
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|
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|
»Wie Honig! Akrat wie Honig. Wieviel machet Se denn?«
|
||
|
|
||
|
»Zwei Fäßle, meh net, aber kein' schlechten.«
|
||
|
|
||
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»'s isch no guet, daß mer net im Hochsommer mostet, sonscht tät mer
|
||
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älles grad saufa.«
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||
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Auch heuer sind die paar grämlichen alten Leute da, die nicht fehlen
|
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dürfen. Sie mosten selber schon lang nicht mehr, aber sie verstehen
|
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alles besser und erzählen von Anno Duback, wo man das Obst so gut wie
|
||
|
geschenkt bekam. Alles war so viel billiger und besser, von
|
||
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Zuckerdazutun wußte man noch gar nix, und überhaupt haben die Bäume
|
||
|
damals ganz anders getragen.
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||
|
»Do hat mer no von ere Ernt' rede könne. I han a Epfelbeimle g'het, das
|
||
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hot allei seine feif Zentner g'schmissa.«
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Aber so schlecht auch die Zeiten geworden sind, die grämlichen Alten
|
||
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helfen doch auch heuer ausgiebig probieren und die noch Zähne haben, von
|
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denen kaut jeder an seinem Apfel herum. Einer hat sogar ein paar große
|
||
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Wadelbirnen gezwungen und elend das Grimmen bekommen.
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||
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»I sags ja«, räsonniert er, »früher han i von dene meine zehn Stück
|
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g'essa.« Und er gedenkt unter ungeheuchelten Seufzern an die Zeiten, da
|
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er noch zehn Wadelbirnen fressen konnte, ehe er 's Grimmen bekam.
|
||
|
|
||
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* * * * *
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||
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Mitten in dem Gewühl hatte Herr Flaig seine Presse stehen und ließ sich
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vom älteren Lehrbuben helfen. Er bezog seine Äpfel aus dem Badischen und
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sein Most war immer vom besten. Er war stillvergnügt und verwehrte
|
||
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niemand, ein »Versucherle« zu nehmen. Noch vergnügter waren seine
|
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Kinder, die sich rundum trieben und selig im Schwarme mitschwammen. Aber
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am vergnügtesten, wenn auch stillerweise, war sein Lehrbub. Dem tat es
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in allen Knochen wohl, daß er sich wieder einmal im Freien kräftig regen
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und ausschaffen konnte, denn er stammte vom Wald oben herunter aus einem
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armen Bauernhaus, und auch der gute Süße ging ihm köstlich ein. Sein
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gesundes Bauernbubengesicht grinste wie eine Satyrmaske und seine
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Schustershände waren sauberer als je am Sonntag.
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Als Hans Giebenrath auf den Platz kam, war er still und ängstlich; er
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war nicht gern gekommen. Aber gleich an der ersten Presse wurde ihm ein
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Becher entgegengestreckt und zwar von Nascholds Liese. Er probierte, und
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beim Schlucken kam mit dem süßen, kraftvollen Mostgeschmack eine Menge
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von lachenden Erinnerungen an frühere Herbste über ihn und zugleich ein
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zaghaftes Verlangen, wieder einmal ein bißchen mitzumachen und lustig zu
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sein. Bekannte sprachen ihn an, Gläser wurden ihm angeboten, und als er
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bei der Flaigschen Presse angekommen war, hatte die allgemeine
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Fröhlichkeit und das Getränk ihn schon gepackt und verwandelt. Ganz
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fidel begrüßte er den Schuster und machte ein paar von den üblichen
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Mostwitzen. Der Meister verbarg sein Erstaunen und hieß ihn fröhlich
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willkommen.
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Eine halbe Stunde war vergangen, da kam ein Mädchen in einem blauen Rock
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daher, lachte den Flaig und seinen Lehrbuben an und fing an mitzuhelfen.
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»Ja so,« sagte der Schuhmacher, »das ist meine Nichte aus Heilbronn. Die
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ist freilich an ein anderes Herbsten gewöhnt, wo's bei ihr daheim den
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vielen Wein gibt.«
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Sie war vielleicht achtzehn oder neunzehn Jahre alt, beweglich und
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lustig wie die Unterländer sind, nicht groß, aber wohlgebaut und von
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vollen Formen. Lustig und gescheit waren im runden Gesicht die dunklen,
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warm blickenden Augen und der hübsche, küssige Mund, und alles in allem
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sah sie zwar wie eine gesunde und heitere Heilbronnerin, aber gar nicht
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wie eine Verwandte des frommen Schustermeisters aus. Sie war durchaus
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von dieser Welt und ihre Augen sahen nicht aus wie solche, die am Abend
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und in der Nacht in der Bibel und in Goßners Schatzkästlein zu lesen
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pflegen.
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Hans sah plötzlich wieder bekümmert aus und wünschte inbrünstig, die
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Emma möchte bald wieder gehen. Sie blieb aber da und lachte und
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schwatzte und wußte auf jeden Witz eine flotte Antwort, und Hans schämte
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sich und wurde ganz still. Mit jungen Mädchen umzugehen, zu denen er Sie
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sagen mußte, war ihm ohnehin entsetzlich, und diese war so lebendig und
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so gesprächig und machte sich aus seiner Gegenwart und aus seiner
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Schüchternheit so wenig, daß er unbehilflich und ein wenig beleidigt die
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Fühler einzog und sich verkroch, wie eine vom Wagenrad gestreifte
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Wegschnecke. Er hielt sich still und versuchte auszusehen wie einer, der
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sich langweilt; doch gelang es ihm nicht und er machte statt dessen ein
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Gesicht, als wäre ihm soeben jemand gestorben.
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Niemand hatte Zeit darauf zu achten, die Emma selber am wenigsten. Sie
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war, wie Hans zu hören bekam, seit vierzehn Tagen bei Flaigs zu Besuch,
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aber sie kannte schon die ganze Stadt. Bei hoch und nieder lief sie
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herum, probierte den Neuen, witzelte und lachte ein wenig, kam wieder
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zurück und tat so, als schaffe sie eifrig mit, nahm die Kinder auf den
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Arm, verschenkte Äpfel und verbreitete lauter Gelächter und Lust um sich
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her. Sie rief jeden Gassenbuben an: »Willst en Epfel?« Dann nahm sie
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einen schönen, rotbackigen, streckte die Hände hinter den Rücken und
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ließ raten: »rechts oder links?«; aber der Apfel war nie in der
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richtigen Hand und erst wenn die Buben zu schimpfen anfingen, gab sie
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einen Apfel her, aber einen kleineren und grünen. Sie schien auch über
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Hans unterrichtet, fragte ihn, ob er der sei, der immer Kopfweh habe und
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war aber, ehe er antworten konnte, schon in ein anderes Gespräch mit
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Nachbarsleuten verwickelt.
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Schon hatte Hans im Sinn, sich zu drücken und heimzugehen, da gab ihm
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Flaig den Hebel in die Hand.
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»So, jetzt kannst du ein wenig weitermachen; die Emma hilft dir. Ich muß
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in die Werkstatt.«
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Der Meister ging, der Lehrling war beauftragt, mit der Meisterin den
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Most wegzutragen, und Hans war mit der Emma allein an der Presse. Er biß
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auf die Zähne und schaffte wie ein Feind.
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Da wollte ihn wundern, warum der Hebel so schwer ginge, und als er
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aufschaute, brach das Mädchen in ein helles Gelächter aus. Sie hatte
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sich zum Spaß dagegen gestemmt und als Hans jetzt wütend wieder anzog,
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tat sie es noch einmal.
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Er sagte kein Wort. Aber während er den Hebel schob, welchem jenseits
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der Leib des Mädchens widerstand, wurde ihm plötzlich schamhaft
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beklommen zumut und allmählich hörte er ganz auf, weiterzudrehen. Eine
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süße Angst überkam ihn und als ihm das junge Ding keck ins Gesicht
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lachte, erschien sie ihm auf einmal verändert, befreundeter und doch
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fremder, und nun lachte auch er ein wenig, ungeschickt vertraulich.
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Und dann ruhte der Hebel vollends ganz.
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Und die Emma sagte: »Wir wollen uns nicht so abrackern«, und gab ihm das
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halbvolle Glas herüber, aus dem sie gerade selber getrunken hatte.
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Dieser Schluck Most schien ihm sehr stark und süßer als der vorige, und
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als er ihn getrunken hatte, sah er verlangend ins leere Glas und
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wunderte sich, wie heftig sein Herz schlug und wie schwer ihm das Atmen
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wurde.
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Darauf arbeiteten sie wieder ein bißchen und Hans wußte nicht was er
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tat, als er versuchte, sich so aufzustellen, daß der Rock des Mädchens
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ihn streifen mußte und ihre Hand die seinige berührte. So oft dies aber
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geschah, stockte ihm das Herz in angstvoller Wonne und kam eine wohlig
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süße Schwäche über ihn, daß seine Knie ein wenig zitterten und in seinem
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Kopf ein schwindliges Sausen erklang.
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Was er sagte, wußte er nicht, aber er stand ihr Red' und Antwort,
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lachte, wenn sie lachte, drohte ihr ein paarmal mit dem Finger, wenn sie
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dummes Zeug trieb, und trank noch zweimal aus ihrer Hand ein Glas leer.
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Zugleich jagte ein ganzes Heer von Erinnerungen an ihm vorüber:
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Dienstmägde, die er abends mit Männern in den Haustüren hatte stehen
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sehen, ein paar Sätze aus Geschichtenbüchern, der Kuß, den ihm Hermann
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Heilner seinerzeit gegeben hatte, und eine Menge von Worten, Erzählungen
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und dunkeln Schülergesprächen über »die Mädle« und »wie's ist, wenn man
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a Schätzle hat«. Und er atmete so schwer wie ein Gaul beim
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Bergaufziehen.
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Alles war verwandelt. Die Leute und das Treiben rundherum war zu einem
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farbig lachenden Wolkenwesen aufgelöst. Die einzelnen Stimmen, Flüche
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und Gelächter gingen in einem allgemeinen trüben Brausen unter, der Fluß
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und die alte Brücke sahen ferne und wie gemalt aus.
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Auch Emma hatte ein anderes Aussehen. Er sah ihr Gesicht nicht mehr --
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nur noch die dunklen frohen Augen und einen roten Mund, weiße spitze
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Zähne dahinter; ihre Gestalt zerfloß und er sah nur noch einzelnes davon
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-- bald einen Halbschuh mit schwarzem Strumpf darüber, bald ein
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verirrtes Lockengehängsel im Nacken, bald einen ins blaue Tuch hinein
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verschwindenden, gebräunten, runden Hals, bald die straffen Achseln und
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darunter das atmende Wogen, bald ein rötlich durchscheinendes Ohr.
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Und nach wieder einer Weile ließ sie das Trinkglas in den Zuber fallen
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und bückte sich danach, und dabei drückte am Rand des Zubers ihr Knie
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gegen sein Handgelenk. Und er bückte sich auch, aber langsamer, und
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berührte fast mit seinem Gesicht ihr Haar. Das Haar hatte einen
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schwachen Duft und darunter, im Schatten loser, krauser Löckchen,
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glänzte warm und braun ein schöner Nacken und verlief in die blaue
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Taille, deren stark angespannte Haften ihn noch ein Stück weit im Ritz
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durchscheinen ließen.
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Als sie sich wieder aufrichtete, und als dabei ihr Knie seinen Arm
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entlang gleitete, und ihr Haar ihm die Backen streifte, und sie vom
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Bücken ganz rot geworden war, lief ein heftiger Schauder Hans durch alle
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Glieder. Er wurde blaß und hatte einen Augenblick das Gefühl einer
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tiefen, tiefen Müdigkeit, so daß er sich an der Preßschraube festhalten
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mußte. Sein Herz ging zuckend auf und ab und die Arme wurden schwach und
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taten ihm in den Achseln weh.
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Von da an sprach er fast kein Wort mehr und vermied den Blick des
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Mädchens. Dafür sah er sie, sobald sie wegschaute, starr und mit einer
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Mischung von ungekannter Lust und bösem Gewissen an. In dieser Stunde
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zerriß etwas in ihm und tat ein neues, fremdartig verlockendes Land mit
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fernen blauen Küsten sich vor seiner Seele auf. Er wußte noch nicht oder
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ahnte nur, was die Bangnis und süße Qual in ihm bedeute, und wußte auch
|
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nicht, was größer in ihm war, Pein oder Lust.
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Die Lust aber bedeutete den Sieg seiner jungen Liebeskraft und das erste
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Ahnen vom gewaltigen Leben, und die Pein bedeutete, daß der Morgenfriede
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gebrochen war und daß seine Seele das Land der Kindheit verlassen hatte,
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das man nicht wiederfindet. Sein leichtes Schifflein, knapp dem ersten
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Schiffbruch entronnen, war nun in die Gewalt neuer Stürme und in die
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Nähe wartender Untiefen und halsbrechender Klippen geraten, durch welche
|
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|
auch die bestgeleitete Jugend keinen Führer hat, sondern aus eigenen
|
||
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Kräften Weg und Rettung finden muß.
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Es war gut, daß nun der Lehrbub wiederkam und ihn an der Presse ablöste.
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Hans blieb noch eine Weile da. Er hoffte noch auf eine Berührung oder
|
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ein freundliches Wort von Emma. Diese plauderte wieder an fremden
|
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|
Keltern herum. Und da Hans sich vor dem Lehrling genierte, drückte er
|
||
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sich nach einer Viertelstunde nach Hause, ohne Adieu zu sagen.
|
||
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Alles war sonderbar anders geworden, schön und erregend. Die von den
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||
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Trebern feist gewordenen Sperlinge schossen lärmend durch den Himmel,
|
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der noch nie so hoch und schön und so sehnsüchtig blau gewesen war.
|
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Niemals hatte der Fluß einen so reinen, grünblauen, lachenden Spiegel
|
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gehabt, noch ein so blendend weißes, brausendes Wehr. Alles schien
|
||
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gleich zieren Bildern neu bemalt hinter klaren, frischen Glasscheiben zu
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||
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stehen. Alles schien auf den Beginn eines großen Festes zu warten. Auch
|
||
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in der eigenen Brust empfand er ein beengend starkes, banges und süßes
|
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Wogen seltsam verwegener Gefühle und ungewöhnlicher, greller Hoffnungen,
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|
zusammen mit einer schüchtern zweifelnden Angst, es sei nur ein Traum
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und könne niemals wahr werden. Anschwellend wurden diese zwiespältigen
|
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|
Empfindungen zu einem dunkel auftreibenden Quell, zu einem Gefühl, als
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||
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wolle etwas allzu Starkes sich in ihm losmachen und Luft gewinnen --
|
||
|
vielleicht ein Schluchzen, vielleicht ein Singen, Schreien oder lautes
|
||
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Lachen. Erst zu Hause beruhigte sich diese Erregung ein wenig. Dort war
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||
|
freilich alles wie immer.
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»Wo kommst denn her?« fragte Herr Giebenrath.
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»Vom Flaig an der Mühle.«
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»Wie viel hat der gemostet?«
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»Zwei Faß, glaub ich.«
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Er bat, die Flaigschen Kinder einladen zu dürfen, wenn der Vater ans
|
||
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Mosten käme.
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»Versteht sich«, brummte der Papa. »Ich mach's nächste Woche. Hol sie
|
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|
dann nur!«
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Es war noch eine Stunde bis zum Abendessen. Hans ging in den Garten
|
||
|
hinaus. Außer den beiden Tannen war wenig Grünes mehr da. Er riß eine
|
||
|
Haselgerte ab, ließ sie durch die Luft sausen und störte mit ihr im
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welken Laub herum. Die Sonne war schon hinterm Berg, dessen schwarzer
|
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Umriß mit haarfein gezeichneten Tannenspitzen den grünlich blauen,
|
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feuchtklaren Späthimmel durchschnitt. Eine graue, langgestreckte Wolke,
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|
gelb und bräunlich angeglüht, schwamm langsam und wohlig wie ein
|
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heimkehrendes Schiff durch die dünne, goldige Luft talaufwärts.
|
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Von der reifen, farbig satten Schönheit des Abends in einer seltsamen,
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ihm fremden Weise ergriffen, schlenderte Hans durch den Garten. Zuweilen
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blieb er stehen, schloß die Augen und versuchte sich die Emma
|
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vorzustellen, wie sie ihm an der Presse gegenüber gestanden war, wie sie
|
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|
ihn aus ihrem Becher hatte trinken lassen, wie sie sich über die Kufe
|
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gebückt und errötend wieder erhoben hatte. Er sah ihre Haare, ihre Figur
|
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im engen blauen Kleid, ihren Hals und von dunklen Härchen braun
|
||
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verschatteten Nacken, und alles erfüllte ihn mit Lust und Zittern, nur
|
||
|
ihr Gesicht konnte er sich durchaus nicht mehr vorstellen.
|
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Als die Sonne drunten war, spürte er die Kühle nicht und empfand die
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vorschreitende Dämmerung wie einen Schleier voll von Heimlichkeiten, für
|
||
|
die er keine Namen wußte. Denn er begriff zwar, daß er sich in die
|
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Heilbronnerin verliebt habe, aber das Arbeiten der erwachenden
|
||
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Männlichkeit in seinem Blute begriff er nur dunkel als einen
|
||
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ungewohnten, gereizten und müdemachenden Zustand.
|
||
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|
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|
Beim Abendessen war es ihm sonderbar, mit seinem verwandelten Wesen
|
||
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mitten in der altgewohnten Umgebung zu sitzen. Der Vater, die alte Magd,
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||
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Tisch und Geräte und das ganze Zimmer kam ihm plötzlich altgeworden vor
|
||
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und er sah alles mit einem Gefühl von Erstaunen, Fremdheit und
|
||
|
Zärtlichkeit an, als sei er soeben von einer langen Reise heimgekehrt.
|
||
|
Damals, als er mit seinem mörderlichen Aste liebäugelte, hatte er
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||
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dieselben Menschen und Sachen mit der wehmütig überlegenen Empfindung
|
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eines Abschiednehmenden betrachtet, jetzt war's ein Zurückkehren,
|
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Erstaunen, Lächeln, Wiederbesitzen.
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||
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Man hatte gegessen und Hans wollte schon aufstehen, da sagte sein Vater
|
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in seiner kurzen Art: »Magst du gern Mechaniker werden, Hans, oder
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lieber ein Schreiber?«
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»Wieso?« fragte Hans erstaunt zurück.
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||
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»Du könntest Ende nächster Woche beim Mechaniker Schuler eintreten, oder
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übernächste Woche auf dem Rathaus als Lehrling. Überleg' dir's
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||
|
ordentlich! Wir reden dann morgen darüber.«
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||
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|
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|
Hans stand auf und ging hinaus. Die plötzliche Frage hatte ihn verwirrt
|
||
|
und geblendet. Unerwartet stellte sich das tägliche, tätige, frische
|
||
|
Leben vor ihn hin, dem er seit Monaten fremd geworden war, hatte ein
|
||
|
lockendes Gesicht und ein drohendes Gesicht, versprach und forderte.
|
||
|
Eine rechte Lust hatte er weder zum Mechaniker noch zum Schreiber. Die
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||
|
strenge körperliche Arbeit beim Handwerk schreckte ihn ein wenig. Da
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||
|
fiel ihm sein Schulfreund August ein, der ja Mechaniker geworden war und
|
||
|
den er fragen konnte.
|
||
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|
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|
Während er der Sache nachdachte, wurden seine Vorstellungen trüber und
|
||
|
blasser, die Angelegenheit schien ihm doch nicht so gar eilig und
|
||
|
wichtig. Etwas anderes trieb und beschäftigte ihn, er schritt unruhig
|
||
|
die Hausflur auf und ab und plötzlich nahm er seinen Hut, verließ das
|
||
|
Haus und ging langsam auf die Gasse hinaus. Es war ihm eingefallen, er
|
||
|
müsse heute die Emma noch einmal sehen.
|
||
|
|
||
|
Es dunkelte schon. Aus einem nahen Wirtshaus tönte Geschrei und heiseres
|
||
|
Singen herüber. Manche Fenster waren beleuchtet, da und dort entzündete
|
||
|
sich eins und wieder eins und legte einen schwachen roten Schein in die
|
||
|
dunkle Luft. Eine lange Reihe junger Mädchen, Arm in Arm, flanierte
|
||
|
unter lautem Gelächter und Gerede fröhlich gaßab, schwankte im
|
||
|
unsicheren Licht und lief wie eine warme Woge von Jugend und Lust durch
|
||
|
die entschlummernden Gassen. Hans sah ihnen lange nach, das Herz schlug
|
||
|
ihm bis in den Hals. Hinter einem mit Gardinen verhängten Fenster hörte
|
||
|
man Geige spielen. Am Brunnen wusch ein Weib Salat. Auf der Brücke
|
||
|
spazierten zwei Burschen mit ihren Schätzen. Der eine hielt sein Mädchen
|
||
|
lose an der Hand, schlenkerte ihren Arm und rauchte seine Zigarre. Das
|
||
|
zweite Paar ging langsam und engverschlungen weiter, der Bursch umfaßte
|
||
|
die Hüfte des Mädchens und sie drückte Schulter und Kopf fest gegen
|
||
|
seine Brust. Hans hatte das hundertmal gesehen und nicht beachtet. Jetzt
|
||
|
hatte es einen heimlichen Sinn, eine unklare, aber lüstern süße
|
||
|
Bedeutung; sein Blick blieb auf der Gruppe ruhen und seine Phantasie
|
||
|
drängte ahnend einem nahen Verständnis entgegen. Beklommen und im
|
||
|
Innersten aufgerüttelt fühlte er sich einem großen Geheimnis nahe, von
|
||
|
dem er nicht wußte, ob es köstlich oder schrecklich wäre, aber von
|
||
|
beidem empfand er bebend etwas voraus.
|
||
|
|
||
|
Vor dem Flaigschen Häuschen machte er Halt und fand nicht den Mut
|
||
|
einzutreten. Was sollte er drinnen tun und sagen? Er mußte daran denken,
|
||
|
wie er als ein Bub von elf und zwölf Jahren oft hierher gekommen war;
|
||
|
dann hatte Flaig ihm biblische Geschichten erzählt und seinen stürmisch
|
||
|
neugierigen Fragen über die Hölle, den Teufel und die Geister
|
||
|
standgehalten. Diese Erinnerungen waren unbequem und gaben ihm ein
|
||
|
schlechtes Gewissen. Er wußte nicht, was er tun wollte, er wußte nicht
|
||
|
einmal, was er eigentlich wünschte, doch wollte ihm scheinen, er stehe
|
||
|
vor etwas Heimlichem und Verbotenem. Es schien ihm unrecht gegen den
|
||
|
Schuhmacher zu sein, daß er im Finstern vor seiner Türe stand, ohne
|
||
|
einzutreten. Und wenn jener ihn dastehen sähe oder jetzt aus der Türe
|
||
|
träte, würde er ihn wahrscheinlich nicht einmal schelten, sondern
|
||
|
auslachen, und davor graute ihm am meisten.
|
||
|
|
||
|
Er schlich sich hinter das Haus und konnte nun vom Gartenzaun aus in die
|
||
|
erleuchtete Wohnstube hineinsehen. Den Meister sah er nicht. Die Frau
|
||
|
schien etwas zu nähen oder zu stricken, der älteste Knabe war noch auf
|
||
|
und saß lesend am Tisch. Die Emma ging hin und her, offenbar mit
|
||
|
Aufräumen beschäftigt, so daß er sie immer nur für Augenblicke zu sehen
|
||
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bekam. Es war so still, daß man jeden fernsten Schritt in der Gasse und
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||
|
jenseits des Gartens das leise Strömen des Flusses deutlich hören
|
||
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konnte. Die Dunkelheit und Nachtkühle nahm eilig zu.
|
||
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|
Neben den Wohnzimmerfenstern lag ein kleineres Flurfenster dunkel. Nach
|
||
|
einer langen Weile erschien an diesem Fensterchen eine undeutliche
|
||
|
Gestalt, lehnte sich heraus und blickte in die Dunkelheit. Hans erkannte
|
||
|
an der Figur, daß es Emma war, und vor banger Erwartung stand ihm das
|
||
|
Herz still. Sie blieb im Fenster stehen, lang und ruhig herüberblickend,
|
||
|
doch wußte er nicht, ob sie ihn sehe und erkenne. Er regte kein Glied
|
||
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und schaute starr zu ihr hinüber, mit ungewissem Zagen zugleich hoffend
|
||
|
und fürchtend, sie möchte ihn erkennen.
|
||
|
|
||
|
Und die undeutliche Gestalt verschwand wieder aus dem Fenster, gleich
|
||
|
darauf klinkte die kleine Gartentüre und Emma kam aus dem Hause. Hans
|
||
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wollte im ersten Schrecken auf und davon, blieb aber willenlos am Zaun
|
||
|
lehnen und sah das Mädchen langsam ihm entgegen durch den dunklen Garten
|
||
|
schreiten, und bei jedem ihrer Schritte trieb es ihn, davonzulaufen, und
|
||
|
hielt etwas Stärkeres ihn zurück.
|
||
|
|
||
|
Nun stand Emma gerade vor ihm, keinen halben Schritt entfernt, nur der
|
||
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niedrige Zaun dazwischen, und sie sah ihn aufmerksam und sonderbar an.
|
||
|
Eine ganze Zeitlang sagte keines ein Wort. Dann fragte sie leise:
|
||
|
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||
|
»Was willst du?«
|
||
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||
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»Nichts«, sagte er, und es fuhr ihm wie ein Streicheln über die Haut,
|
||
|
daß sie ihm Du gesagt hatte.
|
||
|
|
||
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Sie streckte ihm ihre Hand über den Zaun weg hin. Er nahm sie schüchtern
|
||
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und zärtlich und drückte sie ein wenig, da merkte er, daß sie nicht
|
||
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zurückgezogen wurde, faßte Mut und streichelte die warme Mädchenhand
|
||
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fein und vorsichtig. Und als sie ihm noch immer willig überlassen blieb,
|
||
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legte er sie an seine Wange. Eine Flut von durchdringender Lust, von
|
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|
seltsamer Wärme und seliger Müdigkeit überlief sein Wesen, die Luft um
|
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ihn her schien ihm lau und föhnfeucht, er sah nicht Gasse noch Garten
|
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mehr, nur ein nahes helles Gesicht und ein Gewirre dunkler Haare.
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Und es schien ihm aus einer großen Nachtferne her zu tönen, als das
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Mädchen ganz leise fragte:
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»Willst du mir einen Kuß geben?«
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Das helle Gesicht kam näher, die Last eines Körpers bog die Latten ein
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wenig nach außen, lose, leicht duftende Haare streiften Hans die Stirn,
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und geschlossene Augen, von weißen, breiten Lidern und dunkeln Wimpern
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zugedeckt, standen dicht vor den seinen. Ein heftiger Schauder lief ihm
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über den Leib, als er mit scheuen Lippen den Mund des Mädchens berührte.
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Er zitterte augenblicklich wieder zurück, aber sie hatte seinen Kopf mit
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den Händen umfaßt, drückte ihr Gesicht in seines und ließ seine Lippen
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nicht los. Er fühlte ihren Mund brennen, er fühlte ihn sich anpressen
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und gierig festsaugen, als wolle er ihm das Leben austrinken. Eine tiefe
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Schwäche überkam ihn; noch ehe die fremden Lippen von ihm ließen,
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verwandelte die zitternde Lust sich in Todesmüdigkeit und Pein, und als
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Emma ihn freigab, schwankte er und hielt sich mit krampfhaft klammernden
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Fingern am Zaun fest.
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»Du, sei morgen abend wieder da«, sagte Emma und ging rasch ins Haus
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zurück. Sie war keine fünf Minuten fort gewesen, Hans aber schienen
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lange Zeiten vergangen. Er schaute ihr mit leeren Blicken nach, hielt
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sich noch immer an den Planken und fühlte sich zu müde, um einen Schritt
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zu tun. Träumend hörte er seinem Blute zu, das ihm im Kopfe hämmerte, in
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ungleichen, schmerzhaften Wogen vom Herzen und zurückflutete und ihm den
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Atem verhielt.
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* * * * *
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Nun sah er drinnen im Zimmer die Türe gehen und den Meister
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hereintreten, der wohl noch in der Werkstatt gewesen war. Eine Furcht,
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man möchte ihn bemerken, überfiel ihn und trieb ihn davon. Er ging
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langsam, widerwillig und unsicher wie ein leicht Betrunkener und hatte
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bei jedem Schritt das Gefühl, in die Knie sinken zu müssen. Die dunkeln
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Gassen mit schläfrigen Giebeln und trüben roten Fensteraugen flossen wie
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bleiche Kulissen an ihm vorüber, und Brücke, Fluß, Höfe und Gärten. Der
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Gerbergaßbrunnen plätscherte sonderbar laut und tönend. Traumbefangen
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öffnete Hans ein Tor, kam durch einen pechfinsteren Gang, stieg Treppen
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empor, öffnete und schloß eine Türe und noch eine, setzte sich auf einen
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dastehenden Tisch und erwachte erst nach einer längeren Zeit zu der
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Empfindung, zu Hause in seiner Stube zu sein. Es dauerte wieder eine
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Weile, ehe er zum Entschluß kam, sich auszukleiden. Er tat es zerstreut
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und blieb entkleidet am Fenster sitzen, bis ihn plötzlich die
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Herbstnacht durchfröstelte und in die Kissen trieb.
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Er glaubte augenblicklich einschlafen zu müssen. Aber kaum lag er und
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war ein wenig warm geworden, so kam das Herzklopfen wieder und das
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ungleiche, gewaltsame Wallen des Blutes. Sobald er die Augen zutat,
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war's ihm als hinge der Mund des Mädchens noch an seinem, söge ihm die
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Seele aus und erfülle ihn mit peinigender Hitze.
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Spät schlief er ein und stürzte in gehetzter Flucht von Traum zu Traum.
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Er stand in einer ängstlich tiefen Finsternis, um sich tastend griff er
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Emmas Arm, sie umfaßte ihn und sie sanken zusammen in langsamem Fall in
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eine warme, tiefe Flut. Der Schuhmacher stand plötzlich da und fragte,
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warum er ihn nimmer besuchen wolle, da mußte Hans lachen und merkte, daß
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es nicht Flaig, sondern Hermann Heilner war, der neben ihm im
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Maulbronner Oratorium in einem Fenster saß und Witze machte. Aber
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sogleich verflog auch das und er stand an der Mostpresse, die Emma
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stemmte sich gegen den Hebel und er kämpfte mit aller Kraft dagegen an.
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Sie bog sich herüber und suchte seinen Mund, es wurde still und
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stockfinster und nun sank er wieder in eine warme, schwarze Tiefe und
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verging vor Schwindel und Todesangst. Zugleich hörte er den Ephorus eine
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Rede halten, von der er nicht wußte, ob sie ihm gelte.
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Dann schlief er bis tief in den Morgen hinein. Es war ein heiter
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goldiger Tag. Er ging lange im Garten auf und ab, bemühte sich
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aufzuwachen und klar zu werden, war aber von einem zähen, schläfrigen
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Nebel umgeben. Er sah violette Astern, die allerletzten Blumen des
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Gartens, schön und lachend in der Sonne stehen, als wäre es noch im
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August, und sah das warme, liebe Licht um die verdorrten Reiser und
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Zweige und kahlen Ranken zärtlich und einschmeichelnd fluten, als wäre
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es Vorfrühlingszeit. Aber er sah es nur, er erlebte es nicht, es ging
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ihn nichts an. Plötzlich ergriff ihn eine klare, starke Erinnerung aus
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der Zeit, da hier im Garten noch seine Hasen herumsprangen und sein
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Wasserrad und Hammerwerkchen lief. Er mußte an einen Septembertag denken
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vor drei Jahren. Es war der Vorabend vor dem Sedansfest; August war zu
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ihm gekommen und hatte Efeu mitgebracht, nun wuschen sie ihre
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Fahnenstangen blank und befestigten das Efeu an den goldenen Spitzen,
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von morgen redend und sich auf morgen freuend. Sonst war nichts und
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geschah nichts, aber sie waren beide so voll von Festahnung und großer
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Freude gewesen, die Fahnen hatten in der Sonne geglänzt, die Anna hatte
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Zwetschgenkuchen gebacken, und zu Nacht sollte auf dem hohen Felsen das
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Sedansfeuer angezündet werden.
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Hans wußte nicht, warum er gerade heute an jenen Abend denken mußte,
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nicht warum diese Erinnerung so schön und mächtig war, noch warum sie
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ihn so elend und traurig machte. Er wußte nicht, daß im Kleide dieser
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Erinnerung seine Kindheit und sein Knabentum noch einmal fröhlich und
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lachend vor ihm aufstand, um Abschied zu nehmen und den Stachel eines
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gewesenen und nie wiederkehrenden großen Glückes zurückzulassen. Er
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empfand nur, daß diese Erinnerung mit dem Denken an Emma und an gestern
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abend sich nicht vertrug und daß etwas in ihm aufgestanden sei, das mit
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dem damaligen Glücklichsein nicht vereinbar war. Er glaubte wieder die
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goldenen Fahnenspitzen blinken zu sehen, seinen Freund August lachen zu
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hören und den Duft der frischen Kuchen zu riechen, und das war alles so
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heiter und glückselig und ihm so ferngerückt und fremd geworden, daß er
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sich an den rauhen Stamm der großen Rottanne lehnte und in ein
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hoffnungsloses Schluchzen ausbrach, das ihm für den Augenblick Trost
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brachte und Erlösung gewährte.
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Um Mittag lief er zu August, der jetzt erster Lehrling geworden und
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mächtig auseinandergegangen und gewachsen war. Er erzählte ihm sein
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Anliegen wegen dem Mechaniker werden.
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»Das ist so 'ne Sache«, machte jener und schnitt ein welterfahrenes
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Gesicht dazu. »Das ist so 'ne Sache. Weil du nämlich so ein
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Schwachmatikus bist. Im ersten Jahr hast du immer beim Schmieden das
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verdammte Draufschlagen und so'n Vorhammer ist kein Suppenlöffel. Und
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mußt die Eisen herumtragen und abends aufräumen, und zum Feilen gehört
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auch eine Kraft, und im Anfang, bis du was los hast, kriegst du nix als
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alte Feilen, die hauen nix und sind glatt wie ein Affenarsch.«
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Hans wurde sogleich kleinlaut.
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»Ja, dann soll ich's lieber bleiben lassen?« fragte er zaghaft.
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»Jerum, das hab' ich doch nicht gesagt! Sei doch kein Lamech! Bloß daß
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es im Anfang kein Tanzboden ist. Aber sonst, ja -- so ein Mechaniker ist
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was Feines, weißt du, und 'n guten Kopf muß einer auch haben, sonst kann
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er Grobschmied werden. Da guck' mal her!«
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Er brachte ein paar kleine, feingearbeitete Maschinenteile herbei, aus
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blankem Stahl, und zeigte sie Hans.
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»Ja, da darf kein halber Millimeter dran fehlen. Alles von Hand
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geschafft, bis auf die Schrauben. Da heißt's Augen auf! Die werden jetzt
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noch poliert und gehärtet, dann hat sich's.«
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»Ja, das ist schön. Wenn ich nur wüßte --«
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August lachte.
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»Hast Angst? Ja, ein Lehrbub wird halt kuranzt, da hilft alles nix. Aber
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ich bin auch noch da, und ich helf' dir dann schon. Und wenn du am
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nächsten Freitag anfängst, dann hab' ich gerade mein zweites Lehrjahr
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fertig und kriege am Samstag den ersten Wochenlohn. Und am Sonntag wird
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gefeiert, und Bier, und Kuchen, und alle dabei, du auch, dann siehst du
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mal, wie's bei uns hergeht. Ja, da schaust du! Und überhaupt sind wir ja
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früher auch schon so gute Freunde gewest.«
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Beim Essen sagte Hans seinem Vater, er habe Lust zum Mechaniker und ob
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er in acht Tagen anfangen dürfe.
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»Also gut«, sagte der Papa, und ging nachmittags mit Hans in die
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Schulersche Werkstatt und meldete ihn an.
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Als es aber anfing dämmerig zu werden, hatte Hans das alles schon wieder
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so gut wie vergessen und dachte nur noch daran, daß er am Abend von der
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Emma erwartet werde. Es verschlug ihm schon jetzt den Atem, die Stunden
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waren ihm bald zu lang und bald zu kurz und er trieb der Begegnung
|
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entgegen wie ein Schiffer einer Stromschnelle. Von Essen war diesen
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Abend keine Rede, kaum brachte er eine Tasse Milch herunter. Dann ging
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|
er.
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Es war alles wie gestern -- dunkle, schläfernde Gassen, rote Fenster,
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Laternenzwielicht und langsam wandelnde Liebespaare.
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Am Zaun des Schustergartens überfiel ihn eine große Bangigkeit, er
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zuckte bei jedem Geräusch zusammen und kam sich mit seinem Stehen und
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Lauschen im Finstern vor wie ein Dieb. Er hatte noch keine Minute
|
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gewartet, da stand die Emma vor ihm, fuhr ihm mit den Händen übers Haar
|
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und öffnete ihm die Gartenpforte. Er trat vorsichtig ein und sie zog ihn
|
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mit sich, leise durch den von Gebüsche eingefaßten Weg, durchs Hintertor
|
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in den finsteren Hausgang.
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Dort setzten sie sich nebeneinander auf die oberste Kellerstaffel und es
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dauerte eine ganze Weile, bis sie einander in der Schwärze notdürftig
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sehen konnten. Das Mädchen war guter Dinge und plauderte flüsternd drauf
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los. Sie hatte schon manchen Kuß geschmeckt und wußte in Liebessachen
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Bescheid; der schüchtern zärtliche Knabe war ihr eben recht. Sie nahm
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sein schmales Gesicht zwischen ihre Hände und küßte Stirne, Augen und
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Backen, und als der Mund an die Reihe kam und sie ihn wieder so lang und
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saugend küßte, ergriff den Knaben ein Schwindel und er lag schlaff und
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willenlos an sie gelehnt. Sie lachte leise und zupfte ihn am Ohr.
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Sie plauderte fort und fort und er hörte zu und wußte nicht, was er
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hörte. Sie strich mit der Hand über seinen Arm, über sein Haar, über
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seinen Hals und seine Hände, sie lehnte ihre Wange an seine und ihren
|
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Kopf auf seine Achsel. Er schwieg still und ließ alles geschehen, von
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einem süßen Grauen und einer tiefen, glücklichen Bangigkeit erfüllt,
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zuweilen kurz und leise wie ein Fiebernder zusammenzuckend.
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»Was bist denn du für ein Schatz!« lachte sie. »Du traust dich ja gar
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nix.«
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Und sie nahm seine Hand, fuhr mit ihr über ihren Nacken und durch ihr
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Haar und legte sie auf ihre Brust und drückte sich dagegen. Er spürte
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die weiche Form und das süße fremde Wogen, schloß die Augen und fühlte
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sich in endlose Tiefen untersinken.
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»Nicht! Nicht mehr!« sagte er abwehrend, als sie ihn wieder küssen
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wollte. Sie lachte.
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Und sie zog ihn nahe zu sich und preßte seine Seite an ihre Seite, ihn
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mit dem Arm umschlingend, daß er im Spüren ihres Leibes ganz den Kopf
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verlor und gar nichts mehr sagen konnte.
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»Hast mich denn auch lieb?« fragte sie.
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Er wollte Ja sagen, aber er konnte nur nicken, und nickte eine ganze
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Weile fort.
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Sie nahm noch einmal seine Hand und schob sie scherzend unter ihr
|
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Mieder. Da er so Puls und Atem des fremden Lebens heiß und nah erfühlte,
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stockte ihm der Herzschlag und er glaubte sterben zu müssen, so schwer
|
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ging sein Atem. Er zog die Hand zurück und stöhnte: »Jetzt muß ich
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heimgehen.«
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Als er aufstehen wollte, begann er zu schwanken und wäre ums Haar die
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Kellertreppe hinuntergestürzt.
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»Was hast du?« fragte Emma erstaunt.
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»Ich weiß nicht. Ich bin so müd.«
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Er fühlte nicht, daß sie auf dem Weg zum Gartenzaun ihn stützte und sich
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an ihn preßte, und hörte nicht, daß sie Gutnacht sagte und hinter ihm
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|
das Türlein schloß. Er kam durch die Gassen nach Hause, er wußte nicht
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wie, als risse ein großer Sturm ihn mit oder als trüge ihn schaukelnd
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eine mächtige Flut.
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Er sah blasse Häuser links und rechts, in der Höhe darüber Bergrücken,
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Tannenspitzen, Nachtschwärze und große, ruhende Sterne. Er fühlte den
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Wind wehen, hörte den Fluß an den Brückenpfeilern hinströmen und sah im
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Wasser Gärten, blasse Häuser, Nachtschwärze, Laternen und Sterne
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gespiegelt.
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Auf der Brücke mußte er sich setzen; er war so müde und glaubte, nicht
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mehr nach Hause zu kommen. Er setzte sich auf die Brüstung, er horchte
|
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auf das Wasser, das an den Pfeilern rieb und am Wehr brauste und am
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Mühlrechen orgelte. Seine Hände waren kalt, in Brust und Kehle arbeitete
|
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stockend und sich überstürzend das Blut, verfinsterte ihm die Augen und
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rann wieder in plötzlicher Welle zum Herzen, den Kopf voll Schwindel
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lassend.
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Er kam nach Hause, fand seine Stube, legte sich und schlief sogleich
|
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ein, im Traume von Tiefe zu Tiefe durch ungeheure Räume stürzend. Um
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Mitternacht erwachte er gepeinigt und erschöpft und lag bis an den
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Morgen zwischen Schlaf und Wachen, von einer verdürstenden Sehnsucht
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erfüllt, von unbeherrschten Kräften hin und her geworfen, bis in der
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ersten Frühe seine ganze Qual und Bedrängnis in ein langes Weinen
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ausbrach und er auf tränennassen Kissen nochmals einschlief.
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Siebentes Kapitel
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Herr Giebenrath hantierte mit Würde und Geräusch an der Mostpresse und
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Hans half mit. Von den Schusterskindern waren zwei der Einladung
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|
gefolgt, machten sich am Obst zu schaffen, führten gemeinsam ein kleines
|
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Probiergläschen und trugen ungeheure Stücke Schwarzbrot in der Faust.
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|
Aber Emma war nicht mitgekommen.
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Erst als der Vater mit dem Küfer für eine halbe Stunde weggegangen war,
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|
wagte Hans nach ihr zu fragen.
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»Wo ist denn die Emma? Hat sie nicht kommen mögen?«
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Es dauerte eine Zeit, bis die Kleinen leere Mäuler hatten und reden
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konnten.
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|
»Sie ist ja fort«, sagten sie und nickten.
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|
»Fort, wohin fort?«
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»Heim.«
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»Abgereist? Mit der Eisenbahn?«
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Die Kinder nickten eifrig.
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»Wann denn?«
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||
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»Heute morgen.«
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|
Die Kleinen langten wieder nach ihren Äpfeln. Hans drückte an der Presse
|
||
|
herum, starrte in den Mostkübel und begann langsam zu begreifen.
|
||
|
|
||
|
Der Vater kam wieder, man arbeitete und lachte, die Kinder bedankten
|
||
|
sich und liefen fort, es wurde Abend und man ging nach Hause.
|
||
|
|
||
|
Nach dem Nachtessen saß Hans in seiner Stube allein. Es wurde zehn Uhr
|
||
|
und elf Uhr, er machte kein Licht. Dann schlief er tief und lang.
|
||
|
|
||
|
Als er später als sonst erwachte, hatte er nur das undeutliche Gefühl
|
||
|
eines Unglücks und Verlustes, bis ihm Emma wieder einfiel. Sie war fort,
|
||
|
ohne Gruß, ohne Abschied; sie hatte ohne Zweifel schon gewußt, wann sie
|
||
|
reisen würde, als er den letzten Abend bei ihr war. Er erinnerte sich an
|
||
|
ihr Lachen und an ihr Küssen und an ihr überlegenes Sichgeben. Sie hatte
|
||
|
ihn gar nicht ernst genommen.
|
||
|
|
||
|
Mit dem zornigen Schmerz darüber floß die Unruhe seiner erregten und
|
||
|
ungestillten Liebeskräfte zu einer trüben Qual zusammen, die ihn vom
|
||
|
Haus in den Garten, auf die Straße, in den Wald und wieder heim trieb.
|
||
|
|
||
|
So erfuhr er, vielleicht viel zu früh, seinen Teil vom Geheimnis der
|
||
|
Liebe, und es enthielt für ihn wenig Süßes und viel Bitteres. Tage voll
|
||
|
fruchtloser Klagen, sehnlicher Erinnerungen, trostloser Grübeleien;
|
||
|
Nächte, in denen Herzklopfen und Beklemmung ihn nicht schlafen ließ oder
|
||
|
in drückend schreckliche Träume stürzte. Träume, in welchen die
|
||
|
unverstandenen Wallungen seines Blutes zu ungeheuerlichen, ängstigenden
|
||
|
Fabelbildern wurden, zu tödlich umschlingenden Armen, zu heißäugigen
|
||
|
Phantasieen, zu schwindelnden Abgründen, zu riesigen lodernden Augen.
|
||
|
Aufwachend fand er sich allein, von der Einsamkeit der kühlen
|
||
|
Herbstnächte umfangen, litt Sehnsucht nach seinem Mädchen und preßte
|
||
|
sich stöhnend in verweinte Kissen.
|
||
|
|
||
|
Der Freitag, an dem er in die Mechanikerwerkstatt eintreten sollte, kam
|
||
|
näher. Der Vater kaufte ihm einen blauen Leinenanzug und eine blaue,
|
||
|
halbwollene Mütze, er probierte das Zeug an und kam sich in der
|
||
|
Schlosseruniform verändert und ziemlich lächerlich vor. Wenn er am
|
||
|
Schulhaus, an der Wohnung des Rektors oder des Rechenlehrers, an der
|
||
|
Flaigschen Werkstatt oder am Stadtpfarrhaus vorüberkam, wurde ihm elend
|
||
|
zumute. So viel Plage, Fleiß und Schweiß, so viel hingegebene kleine
|
||
|
Freuden, so viel Stolz und Ehrgeiz und hoffnungsfrohes Träumen, alles
|
||
|
umsonst, alles nur, damit er jetzt, später als alle Kameraden und von
|
||
|
allen ausgelacht, als kleinster Lehrbub in eine Werkstatt gehen konnte!
|
||
|
|
||
|
Was würde Heilner dazu sagen?
|
||
|
|
||
|
Erst allmählich begann er sich mit dem blauen Schlosseranzug zu
|
||
|
versöhnen und sich auf den Freitag, an dem er ihn einweihen sollte, ein
|
||
|
wenig zu freuen. Da war doch wenigstens wieder etwas zu erleben!
|
||
|
|
||
|
Doch waren diese Gedanken nicht viel mehr als rasche Blitze aus einem
|
||
|
dunkeln Gewölk. Die Abreise des Mädchens vergaß er nicht, noch weniger
|
||
|
vergaß oder überwand sein Blut die Aufreizungen dieser Tage. Es drängte
|
||
|
und schrie nach mehr, nach einer Erlösung seiner erwachten Sehnsucht
|
||
|
oder nach einem Führer durch die Rätsel, deren Lösung ihm allein zu
|
||
|
schwer war. So verging dumpf und qualvoll langsam die Zeit.
|
||
|
|
||
|
Der Herbst war schöner als je, voll sanfter Sonne, mit silbernen
|
||
|
Morgenfrühen, farbig lachenden Mittagen und klaren Abenden. Die ferneren
|
||
|
Berge nahmen ein tiefes Sammetblau an, die Kastanienbäume leuchteten
|
||
|
goldgelb und über Mauern und Zäune hing purpurn das wilde Weinlaub
|
||
|
herab.
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||
|
|
||
|
Hans war ruhelos vor sich selber auf der Flucht. Tagsüber lief er in der
|
||
|
Stadt und in den Feldern umher und wich den Leuten aus, da er meinte,
|
||
|
man müsse ihm seine Liebesnöte anmerken. Abends aber ging er auf die
|
||
|
Gasse, blickte auf jede Dienstmagd und schlich jedem Liebespaar mit
|
||
|
erbärmlich schlechtem Gewissen nach. Mit Emma schien ihm alles
|
||
|
Begehrenswerte und aller Zauber des Lebens nahe gewesen und tückisch
|
||
|
wieder entglitten zu sein. Er dachte nicht mehr an die Qual und
|
||
|
Beklemmung, die er bei ihr empfunden hatte. Wenn er sie jetzt wieder
|
||
|
hätte, glaubte er, würde er nimmer schüchtern sein, sondern ihr alle
|
||
|
Geheimnisse entreißen und ganz in den verwunschenen Liebesgarten
|
||
|
eindringen, dessen Tor ihm jetzt vor der Nase zugeschlagen war. Seine
|
||
|
ganze Phantasie hatte sich in diesem schwülen, gefährlichen Dickicht
|
||
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verstrickt, irrte verzagend darin umher und wollte in hartnäckiger
|
||
|
Selbstpeinigung nichts davon wissen, daß außerhalb des engen
|
||
|
Zauberkreises schöne weite Räume licht und freundlich lagen.
|
||
|
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||
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Schließlich war er froh, als der anfangs mit Bangen erwartete Freitag da
|
||
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war. Zeitig am Morgen legte er das neue blaue Arbeitskleid an, setzte
|
||
|
die Mütze auf und ging ein wenig zaghaft die Gerbergasse hinunter nach
|
||
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dem Schulerschen Hause. Ein paar Bekannte sahen ihm neugierig nach, und
|
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einer fragte auch: »Was ist, bist du Schlosser worden?«
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In der Werkstatt wurde schon flott gearbeitet. Der Meister war gerade am
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Schmieden. Er hatte ein Stück rotwarmes Eisen auf dem Ambos, ein Geselle
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führte den schweren Vorhammer, der Meister tat die feinern, formenden
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Schläge, regierte die Zange und schlug zwischenein mit dem handlichen
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Schmiedehammer auf dem Ambos den Takt, daß es hell und heiter durch die
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weit offenstehende Türe in den Morgen hinausklang.
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An der langen, von Öl und Feilspänen geschwärzten Werkbank stand der
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ältere Geselle und neben ihm August, jeder an seinem Schraubstock
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beschäftigt. An der Decke surrten rasche Riemen, welche die Drehbänke,
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den Schleifstein, den Blasebalg und die Bohrmaschine trieben, denn man
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arbeitete mit Wasserkraft. August nickte seinem eintretenden Kameraden
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zu und bedeutete ihm, er solle an der Türe warten, bis der Meister Zeit
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für ihn habe.
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Hans blickte die Esse, die stillstehenden Drehbänke, die sausenden
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Riemen und Leerlaufscheiben schüchtern an. Als der Meister sein Stück
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fertig geschmiedet hatte, kam er herüber und streckte ihm eine große,
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harte und warme Hand entgegen.
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»Da hängst du deine Kappe auf«, sagte er und deutete auf einen leeren
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Nagel an der Wand.
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»So, komm. Und da ist dein Platz und dein Schraubstock.«
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Damit führte er ihn vor den hintersten Schraubstock und zeigte ihm vor
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allem, wie er mit dem Schraubstock umgehen und die Werkbank samt den
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Werkzeugen in Ordnung halten müsse.
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»Dein Vater hat mir schon gesagt, daß du kein Herkules bist, und man
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sieht's auch. Na, fürs erste kannst du noch vom Schmieden wegbleiben,
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bis du ein bißchen stärker bist.«
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Er griff unter die Werkbank und zog ein gußeisernes Zahnrädchen hervor.
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»So, damit kannst du anfangen. Das Rad ist noch roh aus der Gießerei und
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hat überall kleine Buckel und Grate, die muß man abkratzen, sonst gehen
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nachher die feinen Werkzeuge dran zuschanden.«
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Er spannte das Rad in den Schraubstock, nahm eine alte Feile her und
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zeigte, wie es zu machen sei.
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»So, nun mach' weiter. Aber daß du mir keine andere Feile nimmst! Bis
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Mittag hast du genug daran zu schaffen, dann zeigst du mir's. Und bei
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der Arbeit kümmerst du dich um gar nichts, als was dir gesagt wird.
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Gedanken braucht ein Lehrling nicht zu haben.«
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Hans begann zu feilen.
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»Halt!« rief der Meister. »Nicht so. Die linke Hand wird so auf die
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Feile gelegt. Oder bist du ein Linkser?«
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»Nein.«
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»Also gut. 's wird schon gehen.«
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Er ging weg an seinen Schraubstock, den ersten bei der Türe, und Hans
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sah zu, wie er zurecht kam.
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Bei den ersten Strichen wunderte er sich, daß das Zeug so weich war und
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so leicht abging. Dann sah er, daß das nur die oberste spröde Gußrinde
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war, die lose abblätterte, und daß darunter erst das körnige Eisen saß,
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das er glätten sollte. Er nahm sich zusammen und arbeitete eifrig fort.
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Seit seinen spielerischen Knabenbasteleien hatte er nie das Vergnügen
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gekostet, unter seinen Händen etwas Sichtbares und Brauchbares entstehen
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zu sehen.
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»Langsamer!« rief der Meister herüber. »Beim Feilen muß man Takt halten
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-- eins zwei, eins zwei. Und draufdrücken, sonst geht die Feile kaputt.«
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Da hatte der älteste Geselle etwas an der Drehbank zu tun und Hans
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konnte sich nicht enthalten, hinüberzuschielen. Ein Stahlzapfen wurde in
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die Scheibe gespannt, der Riemen übersetzt, und blinkend surrte der
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Zapfen, sich hastig drehend, indessen der Geselle einen haardünnen,
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glänzenden Span davon abnahm.
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Und überall lagen Werkzeuge, Stücke von Eisen, Stahl und Messing,
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halbfertige Arbeiten, blanke Rädchen, Meißel und Bohrer, Drehstähle und
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Ahlen von jeder Form, neben der Esse hingen Hämmer und Setzhämmer,
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Ambosaufsätze, Zangen und Lötkolben, die Wand entlang Reihen von Feilen
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und Fräsen, auf den Borden lagen Öllappen, kleine Besen,
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Schmirgelfeilen, Eisensägen, und standen Ölkannen, Säureflaschen, Nägel-
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und Schraubenkistchen herum. Jeden Augenblick wurde der Schleifstein
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benützt.
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Mit Genugtuung nahm Hans wahr, daß seine Hände schon ganz schwarz waren,
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und hoffte, es möchte auch sein Anzug bald gebrauchter aussehen, der
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sich jetzt noch neben den schwarzen und geflickten Monturen der anderen
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lächerlich neu und blau ausnahm.
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Wie der Vormittag vorschritt, kam auch von außen noch Leben in die
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Werkstatt. Es kamen Arbeiter aus der benachbarten Maschinenstrickerei,
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um kleine Maschinenteile schleifen oder reparieren zu lassen. Es kam ein
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Bauersmann, fragte nach seiner Waschmange, die zum Flicken da war, und
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fluchte lästerlich, als er hörte, sie sei noch nicht fertig. Dann kam
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ein eleganter Fabrikbesitzer, mit dem der Meister in einem Nebenraum
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verhandelte.
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Daneben und dazwischen arbeiteten Menschen, Räder und Riemen gleichmäßig
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fort und so vernahm und verstand Hans zum erstenmal in seinem Leben den
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Hymnus der Arbeit, der wenigstens für den Anfänger etwas Ergreifendes
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und angenehm Berauschendes hat, und sah seine kleine Person und sein
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kleines Leben einem großen Rhythmus eingefügt.
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Um neun Uhr war eine Viertelstunde Pause und jeder erhielt ein Stück
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Brot und ein Glas Most. Erst jetzt begrüßte August den neuen Lehrbuben.
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Er redete ihm aufmunternd zu und fing wieder an vom nächsten Sonntag zu
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schwärmen, wo er seinen ersten Wochenlohn mit den Kollegen verjubeln
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wolle. Hans fragte, was das für ein Rad sei, das er abzufeilen habe, und
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er erfuhr, es gehöre zu einer Turmuhr. August wollte ihm noch zeigen,
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wie es später zu laufen und zu arbeiten habe, aber da fing der erste
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Geselle wieder zu feilen an und alle gingen schnell an ihre Plätze.
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Als es zwischen zehn und elf Uhr war, begann Hans müde zu werden; die
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Knie und der rechte Arm taten ihm ein wenig weh. Er trat von einem Fuß
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auf den andern und streckte heimlich seine Glieder, aber es half nicht
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viel. Da ließ er die Feile für einen Augenblick los und stützte sich auf
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den Schraubstock. Es achtete niemand auf ihn. Wie er so stand und ruhte
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und über sich die Riemen singen hörte, kam eine leichte Betäubung über
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ihn, daß er eine Minute lang die Augen schloß. Da stand gerade der
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Meister hinter ihm.
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»Na, was gibt's? Bist schon müd?«
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»Ja, ein bißchen«, gestand Hans.
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Die Gesellen lachten.
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»Das gibt sich schon«, sagte der Meister ruhig. »Jetzt kannst du einmal
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sehen, wie man lötet. Komm!«
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Hans schaute neugierig zu, wie gelötet wurde. Erst wurde der Kolben warm
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gemacht, dann die Lötstelle mit Lötwasser bestrichen und dann tropfte
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vom heißen Kolben das weiße Metall und zischte gelind.
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»Nimm einen Lappen und reibe das Ding gut ab. Lötwasser beizt, das darf
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man auf keinem Metall sitzen lassen.«
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Darauf stand Hans wieder vor seinem Schraubstock und kratzte mit der
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Feile an dem Rädlein herum. Der Arm tat ihm weh und die linke Hand, die
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auf die Feile drücken mußte, war rot geworden und begann zu schmerzen.
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Um Mittag, als der Obergeselle seine Feile weglegte und zum Händewaschen
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ging, brachte er seine Arbeit dem Meister. Der sah sie flüchtig an.
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»'s ist schon recht, man kann's so lassen. Unter deinem Platz in der
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Kiste liegt noch ein gleiches Rad, das nimmst du heut nachmittag vor.«
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Nun wusch auch Hans sich die Hände und ging weg. Eine Stunde hatte er
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zum Essen frei.
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Zwei Kaufmannsstifte, frühere Schulkameraden von ihm, gingen auf der
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Straße hinter ihm her und lachten ihn aus.
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»Landesexamenschlosser!« rief einer.
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Er ging schneller. Er wußte nicht recht, ob er eigentlich zufrieden sei
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oder nicht; es hatte ihm in der Werkstatt gut gefallen, nur war er so
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müd geworden, so heillos müd.
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Und unter der Haustüre, während er sich schon aufs Sitzen und Essen
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freute, mußte er plötzlich an Emma denken. Er hatte sie den ganzen
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Vormittag vergessen gehabt. Jetzt saß plötzlich das Leid von gestern und
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vorgestern ihm wieder im Nacken, so schwer wie je. Er ging leise in sein
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Stüblein hinauf, warf sich aufs Bett und stöhnte vor tiefer Qual. Er
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wollte weinen, aber seine Augen blieben trocken. Hoffnungslos sah er
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sich wieder der verzehrenden Sehnsucht hingegeben, deren Ziel ihm dunkel
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war und die wie eine grausame Krankheit an ihm fraß. Der Kopf stürmte
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und schmerzte ihm und die Kehle tat ihm weh vor ersticktem Schluchzen.
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Das Mittagessen war eine Qual. Er mußte dem Vater Rede stehen und
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erzählen und sich allerlei kleine Witze gefallen lassen, denn der Papa
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war guter Laune. Kaum hatte man gegessen, lief er in den Garten hinaus
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und brachte dort in der Sonne eine Viertelstunde halbträumend zu, dann
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war es Zeit, wieder in die Werkstatt zu gehen.
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Schon vormittags hatte er rote Schwielen an den Händen bekommen, jetzt
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begannen sie ernstlich weh zu tun und waren am Abend so geschwollen, daß
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er nichts anfassen konnte, ohne Schmerzen zu haben. Und vor Feierabend
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mußte er noch unter Augusts Anleitung die ganze Werkstatt aufräumen.
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Der Samstag war noch schlimmer. Die Hände brannten ihn, die Schwielen
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hatten sich zu Blasen vergrößert. Der Meister war schlechter Laune und
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fluchte beim kleinsten Anlaß. August tröstete zwar, das mit den
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Schwielen daure nur ein paar Tage, dann habe man harte Hände und spüre
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nichts mehr, aber Hans fühlte sich todunglücklich, schielte den ganzen
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Tag nach der Uhr und kratzte hoffnungslos an seinem Rädchen herum.
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* * * * *
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Abends beim Aufräumen teilte August ihm flüsternd mit, er gehe morgen
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mit ein paar Kameraden nach Bielach hinaus, es müsse flott und lustig
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hergehen und Hans dürfe auf keinen Fall fehlen. Er solle ihn um zwei Uhr
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abholen. Hans sagte zu, obwohl er am liebsten den ganzen Sonntag daheim
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liegen geblieben wäre, so elend und müde war er. Zu Hause gab ihm die
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alte Anna eine Salbe für die wunden Hände, er ging schon um acht Uhr ins
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Bett und schlief bis in den Vormittag hinein, so daß er sich sputen
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mußte, um noch mit dem Vater in die Kirche zu kommen.
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Beim Mittagessen fing er von August zu reden an und daß er heute mit ihm
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über Feld wolle. Der Vater hatte nichts dagegen, schenkte ihm sogar
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fünfzig Pfennig und verlangte nur, er müsse zum Nachtessen wieder da
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sein.
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Als Hans bei dem schönen Sonnenschein durch die Gassen schlenderte,
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hatte er seit Monaten zum erstenmal wieder eine Freude am Sonntag. Die
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Straße war feierlicher, die Sonne heiterer und alles festlicher und
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schöner, wenn man Arbeitstage mit schwarzen Händen und müden Gliedern
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hinter sich hatte. Er begriff jetzt die Metzger und Gerber, Bäcker und
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Schmiede, die vor ihren Häusern auf den sonnigen Bänken saßen und so
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königlich heiter aussahen, und er betrachtete sie nimmer als elende
|
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Banausen. Er schaute Arbeitern, Gesellen und Lehrlingen nach, die in
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Reihen spazieren oder ins Wirtshaus gingen, den Hut ein wenig schief auf
|
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dem Kopf, mit weißen Hemdkragen und in ausgebürsteten Sonntagskleidern.
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|
Meistens, wenn auch nicht immer, blieben die Handwerker unter sich,
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Schreiner bei Schreinern, Maurer bei Maurern, hielten zusammen und
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wahrten die Ehre ihres Standes, und unter ihnen waren die Schlosser die
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vornehmste Zunft, obenan die Mechaniker. Das alles hatte etwas
|
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Anheimelndes und wenn auch manches daran ein wenig naiv und lächerlich
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war, lag doch dahinter die Schönheit und der Stolz des Handwerks
|
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verborgen, die auch heute noch immer etwas Freudiges und Tüchtiges
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vorstellen und von denen der armseligste Schneiderlehrling noch einen
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kleinen Schimmer erhält, den kein Fabrikarbeiter und auch kein Kaufmann
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hat.
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Wie vor dem Schulerschen Hause die jungen Mechaniker standen, ruhig und
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stolz, Vorübergehenden zunickend und untereinander plaudernd, da konnte
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man wohl sehen, daß sie eine zuverlässige Gemeinschaft bildeten und
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keines Fremden bedurften, auch am Sonntag beim Vergnügen nicht.
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Hans fühlte das auch und freute sich, zu diesen zu gehören. Doch empfand
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|
er eine kleine Angst vor dem geplanten Sonntagsvergnügen, denn er wußte
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|
schon, daß es bei den Mechanikern im Lebensgenusse massiv und reichlich
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|
zuging. Vielleicht würden sie sogar tanzen. Das konnte Hans nicht, im
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||
|
übrigen aber gedachte er so gut als möglich seinen Mann zu stellen und
|
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|
nötigenfalls einen kleinen Katzenjammer zu riskieren. Er war nicht
|
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|
gewohnt, viel Bier zu trinken, und im Rauchen hatte er es mit Mühe dahin
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gebracht, daß er etwa eine Zigarre mit Vorsicht zu Ende bringen konnte,
|
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ohne Elend und Schande davon zu haben.
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|
August begrüßte ihn mit festlicher Freudigkeit. Er erzählte, daß zwar
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der ältere Geselle nicht mitkommen wolle, dafür aber ein Kollege aus
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einer andern Werkstatt, so seien sie wenigstens vier Leute und das
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||
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genüge schon, um ein ganzes Dorf umzudrehen. Bier könne heute jeder
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trinken so viel er möge, denn das bezahle er für alle. Er bot Hans eine
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Zigarre an, dann setzten sich die Vier langsam in Bewegung, bummelten
|
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langsam und stolz durch die Stadt und fingen erst unten am Lindenplatz
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an schneller zu marschieren, um beizeiten nach Bielach zu kommen.
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Der Spiegel des Flusses flimmerte blau, gold und weiß, durch die fast
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ganz entblätterten Ahorne und Akazien der Straßenalleen wärmte eine
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milde Oktobersonne herab, der hohe Himmel war wolkenlos hellblau. Es war
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einer von den stillen, reinen und freundlichen Herbsttagen, an denen
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alles Schöne des vergangenen Sommers wie eine leidlose, lächelnde
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|
Erinnerung die milde Luft erfüllt, an denen die Kinder die Jahreszeit
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vergessen und meinen, sie müssen Blumen suchen, und an denen die alten
|
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|
Männlein und Weiberlein mit sinnenden Augen vom Fenster oder von der
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Bank vorm Hause in die Lüfte schauen, weil es ihnen scheint, die
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|
freundlichen Erinnerungen nicht nur des Jahres, sondern ihres ganzen
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|
abgelaufenen Lebens flögen sichtbar durch die klare Bläue. Die Jungen
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|
aber sind guter Dinge und preisen den schönen Tag, je nach Gaben und
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|
Gemütsart, durch Trankopfer oder Schlachtopfer, durch Gesang oder Tanz,
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||
|
durch Trinkgelage oder durch großartige Raufhändel, denn überall sind
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|
frische Obstkuchen gebacken worden, liegt junger Apfelmost oder Wein
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|
gärend im Keller und feiert Geige oder Harmonika vor den Wirtshäusern
|
||
|
und auf den Lindenplätzen die letzten schönen Tage des Jahres und ladet
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|
zu Tanz und Liedersingen und Liebesspielen ein.
|
||
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|
Die jungen Burschen wanderten rasch voran. Hans rauchte seine Zigarre
|
||
|
mit dem Anschein der Sorglosigkeit und wunderte sich selber darüber, daß
|
||
|
sie ihm ganz wohl bekam. Der Gesell erzählte von seiner Wanderschaft und
|
||
|
niemand nahm daran Anstoß, daß er das Maul so voll nahm; das gehörte zur
|
||
|
Sache. Auch der bescheidenste Handwerksgeselle, wenn er im Brot sitzt
|
||
|
und vor Augenzeugen sicher ist, erzählt von seinen Wanderzeiten in einem
|
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|
großartigen und flotten, ja sagenhaften Ton. Denn die wundervolle Poesie
|
||
|
des Handwerksburschenlebens ist Gemeingut des Volkes und dichtet aus
|
||
|
jedem einzelnen heraus die traditionellen alten Abenteuer neu mit neuen
|
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|
Arabesken, und jeder Kennkunde und Fechtbruder hat, wenn er ins Erzählen
|
||
|
gerät, ein Stück vom unsterblichen Eulenspiegel und ein Stück vom
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|
unsterblichen Straubinger in sich.
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||
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||
|
»Also in Frankfurt, wo ich damals gewesen bin, Sackerlot, da war noch
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||
|
ein Leben! Hab' ich denn das noch nie erzählt, wie ein reicher Kaufmann,
|
||
|
so ein geschleckter Aff, meines Meisters Tochter hat heiraten wollen;
|
||
|
aber sie hat ihn heimgeschickt, weil ich ihr um eine Nummer lieber war
|
||
|
und ist mein Schatz gewesen vier Monat lang und wenn ich nicht Händel
|
||
|
mit dem Alten bekommen hätt', säß ich jetzt dort und wär' sein
|
||
|
Schwiegersohn.«
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||
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|
||
|
Und weiter erzählte er, wie ihn der Meister, das Luder, hat kuranzen
|
||
|
wollen, der elende Seelenverkäufer, und hat's einmal gewagt und die Hand
|
||
|
nach ihm ausgestreckt, da hat er aber kein Wort gesagt, sondern bloß den
|
||
|
Schmiedehammer geschwungen und den Alten 'mal so angesehen, und der ist
|
||
|
aber ganz still weggegangen, weil ihm sein Schädel lieb war, und hat ihm
|
||
|
dann nachher schriftlich gekündigt, der feige Tropf. Und er erzählte von
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||
|
einer großen Schlacht in Offenburg, wo drei Schlosser, er dabei, sieben
|
||
|
Fabrikler halb tot geschlagen haben, -- wer nach Offenburg kommt,
|
||
|
braucht bloß den langen Schorsch zu fragen, der ist noch dort und ist
|
||
|
damals mitgewesen.
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||
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|
||
|
Das alles wurde mit einem kühl-brutalen Ton, aber mit großem innerem
|
||
|
Eifer und Wohlgefallen mitgeteilt und jeder hörte mit tiefem Vergnügen
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||
|
zu und beschloß im stillen, diese Geschichte später auch einmal zu
|
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|
erzählen, anderswo bei andern Kameraden. Denn jeder Schlosser hat einmal
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||
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seines Meisters Tochter zum Schatz gehabt und ist einmal mit dem Hammer
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|
auf einen bösen Meister losgegangen und hat einmal sieben Fabrikler
|
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elend durchgehauen. Bald spielt die Geschichte im Badischen, bald in
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Hessen oder in der Schweiz, bald war es statt des Hammers die Feile oder
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|
ein glühendes Eisen, bald waren es statt Fabriklern Bäcker oder
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||
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Schneider, aber es sind immer die alten Geschichten und man hört sie
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||
|
immer wieder gern, denn sie sind alt und gut und machen der Zunft Ehre.
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||
|
Womit nicht gesagt sein soll, daß es nicht immer wieder und auch heute
|
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noch unter den Wanderburschen solche gibt, die Genies im Erleben oder
|
||
|
Genies im Erfinden sind, was beides ja im Grunde dasselbe ist.
|
||
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||
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Namentlich August war hingerissen und vergnügt. Er lachte fortwährend
|
||
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und stimmte zu, fühlte sich schon als halber Geselle und blies mit
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verächtlicher Genießermiene den Tabakrauch in die goldige Luft. Und der
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Erzähler spielte seine Rolle weiter, denn es kam ihm darauf an, sein
|
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Mitdabeisein als eine gutmütige Herablassung hinzustellen, da er als
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||
|
Gesell eigentlich am Sonntag nicht zu den Lehrlingen gehörte und sich
|
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hätte schämen sollen, dem Buben seine Batzen vertrinken zu helfen.
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Man war eine gute Strecke die Landstraße flußabwärts gegangen; jetzt
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hatte man die Wahl zwischen einem langsam steigenden, im Bogen bergan
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führenden Fahrsträßchen und einem steilen Fußweg, der nur halb so weit
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war. Man wählte die Fahrstraße, wenn sie auch weit und staubig war.
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Fußwege sind für den Werktag und für spazierengehende Herren; das Volk
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aber liebt, namentlich an Sonntagen, die Landstraße, deren Poesie ihm
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|
noch nicht verloren gegangen ist. Steile Fußwege ersteigen, das ist für
|
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|
Bauersleute oder für Naturfreunde aus der Stadt, das ist eine Arbeit
|
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oder ein Sport, aber kein Vergnügen fürs Volk. Dagegen eine Landstraße,
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wo man behaglich vorwärts kommt und dabei plaudern kann, wo man Stiefel
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und Sonntagskleider schont, wo man Wagen und Pferde sieht, andere
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Bummler antrifft und einholt, geputzten Mädchen und singenden
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Burschengruppen begegnet, wo einem Witze nachgerufen werden, die man
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lachend heimgibt, wo man stehen und schwatzen und ledigenfalls den
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Mädchenreihen nachlaufen und nachlachen oder des abends persönliche
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Differenzen mit guten Kameraden durch Taten zum Ausdruck und Ausgleich
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bringen kann! So wenig ein Handwerksbursche je so dumm ist, die lustige,
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bequeme und ergiebige Straße mit Fußwegen zu vertauschen, so wenig tut
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es der städtische Kleinbürger.
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Man ging also den Fahrweg, der sich in großem Bogen ruhig und freundlich
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berghinan zog wie einer, der Zeit hat und kein Schweißvergießen liebt.
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Der Geselle zog den Rock aus und trug ihn am Stock auf der Achsel, statt
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des Erzählens hatte er nun zu pfeifen begonnen, auf eine überaus
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verwegene und lebenslustige Art, und pfiff, bis man nach einer Stunde in
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Bielach ankam. Über Hans waren einige Sticheleien ergangen, die ihn
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nicht stark anfochten und von August eifriger als von ihm selber pariert
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wurden. Und nun stand man vor Bielach.
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* * * * *
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Das Dorf lag mit roten Ziegeldächern und silbergrauen Strohdächern
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zwischen herbstfarbige Obstbäume gebettet, rückwärts vom dunklen
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Bergwalde überragt.
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Die jungen Leute wollten über das Wirtshaus, in das man einkehren
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wollte, nicht einig werden. Der »Anker« hatte das beste Bier, aber der
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»Schwan« die besten Kuchen, und im »Scharfen Eck« war eine schöne
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Wirtstochter. Endlich setzte August durch, daß man in den »Anker« gehe,
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und deutete augenzwinkernd an, das »Scharfe Eck« werde wohl während der
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paar Schoppen nicht davonlaufen und auch nachher noch zu finden sein.
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Das war allen recht, und so ging man ins Dorf, an den Ställen und an den
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mit Geranienstöcken besetzten niederen Bauernfenstern vorbei auf den
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»Anker« los, dessen goldenes Schild über zwei junge, runde Kastanien
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hinweg in der Sonne gleißend lockte. Zum Leidwesen des Gesellen, der
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durchaus innen sitzen wollte, war die Schankstube überfüllt und man
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mußte im Garten Platz nehmen.
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Der »Anker« war nach den Begriffen seiner Gäste ein feines Lokal, also
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kein altes Bauernwirtshaus, sondern ein moderner Backsteinwürfel mit zu
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vielen Fenstern, mit Stühlen statt der Bänke und mit einer Menge von
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farbigen Reklameschildern aus Blech, ferner mit einer städtisch
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angezogenen Kellnerin und einem Wirte, den man niemals in Hemdärmeln,
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sondern stets in einem vollständigen braunen Anzug nach der Mode zu
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sehen bekam. Er war eigentlich bankrott, hatte aber sein eigenes Haus
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von seinem Hauptgläubiger, einem großen Bierbrauer, in Pacht genommen
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und war seither noch vornehmer geworden. Der Garten bestand aus einem
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Akazienbaum und aus einem großen Drahtgitter, das von wildem Wein
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einstweilen zur Hälfte überwachsen war.
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»Zum Wohl, ihr Leute!« schrie der Geselle und stieß mit allen dreien an.
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Und um sich zu zeigen, trank er das ganze Glas auf einen Zug leer.
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»Sie, schönes Fräulein, da war ja gar nix drin; bringen Sie gleich noch
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eins!« rief er der Kellnerin zu und streckte ihr über den Tisch weg das
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Schoppenglas entgegen.
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Das Bier war vorzüglich, kühl und nicht zu bitter, und Hans ließ sich
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sein Glas fröhlich schmecken. August trank mit Kennermiene, schnalzte
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mit der Zunge und rauchte nebenher wie ein schlechter Ofen, was Hans
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still bewunderte.
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Es war doch nicht so übel, so seinen fidelen Sonntag zu haben und am
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Wirtstisch zu sitzen wie einer, der es darf und verdient hat, und mit
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Leuten, die das Leben und das Lustigsein loshatten. Es war schön,
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mitzulachen und bisweilen selber einen Witz zu riskieren, es war schön
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und männlich, nach dem Austrinken sein Glas mit Nachdruck auf den Tisch
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zu knallen und sorglos zu rufen: »Noch eins, Fräulein!« Es war schön,
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einem Bekannten am andern Tische zuzutrinken, den kalten Zigarrenstumpen
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in der Linken hängen zu lassen und den Hut ins Genick zu schieben wie
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die andern.
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Der mitgekommene fremde Geselle begann nun auch warm zu werden und zu
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erzählen. Er wußte von einem Schlosser in Ulm, der konnte zwanzig Glas
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Bier trinken, von dem guten Ulmer Bier, und wenn er damit fertig war,
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wischte er sich das Maul und sagte: So, jetzt noch ein gutes Fläschle
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Wein! Und er hatte in Cannstatt einen Heizer gekannt, der zwölf
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Knackwürste hintereinander essen konnte und eine Wette damit gewonnen
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hatte. Aber eine zweite solche Wette hatte er verloren. Er hatte sich
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vermessen, die Speisekarte einer kleinen Wirtschaft durchzuspeisen und
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er hatte auch fast alles verzehrt, aber am Schluß der Speisekarte kamen
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viererlei Arten Käse, und wie er bei der dritten war, schob er den
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Teller weg und sagte: Jetzt lieber sterben als noch einen Bissen!
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Auch diese Geschichten fanden reichen Beifall und es zeigte sich, daß es
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da und dort auf Erden ausdauernde Trinker und Esser gebe, denn jeder
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wußte von einem solchen Helden und seinen Leistungen zu erzählen. Beim
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einen war es »ein Mann in Stuttgart«, beim andern »ein Dragoner, ich
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glaub in Ludwigsburg«, beim einen waren es siebzehn Kartoffeln gewesen,
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beim andern elf Pfannenkuchen mit Salat. Man brachte diese Begebenheiten
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mit sachlichem Ernste vor und gab sich mit Behagen der Erkenntnis hin,
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daß es doch vielerlei schöne Gaben und merkwürdige Menschen gibt und
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auch tolle Käuze darunter. Dies Behagen und diese Sachlichkeit sind alte
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ehrwürdige Erbstücke jedes Stammtischphilisteriums und werden von den
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jungen Leuten nachgeahmt so gut wie Trinken, Politisieren, Rauchen,
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Heiraten und Sterben.
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Beim dritten Glas fragte Hans, ob es denn keine Kuchen gebe. Man rief
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der Kellnerin und erfuhr, nein es gebe keine Kuchen, worüber alle sich
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schrecklich aufregten. August stand auf und sagte, wenn's nicht einmal
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Kuchen gebe, dann könne man ja ein Haus weiter gehen. Der fremde Geselle
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schimpfte über die miserable Wirtschaft, nur der Frankfurter war fürs
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Bleiben, denn er hatte sich ein wenig mit der Kellnerin eingelassen und
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sie schon mehrmals intensiv gestreichelt. Hans hatte zugesehen und
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dieser Anblick samt dem Bier hatte ihn seltsam aufgeregt. Er war froh,
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daß man jetzt fortging.
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Als die Zeche bezahlt war und alle auf die Straße traten, begann Hans
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seine drei Schoppen ein wenig zu spüren. Es war ein angenehmes Gefühl,
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halb Müdigkeit, halb Unternehmungslust, auch war etwas wie ein dünner
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Schleier vor seinen Augen, durch welchen alles entfernter und fast
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unwirklich aussah, ähnlich wie man im Traum sieht. Er mußte beständig
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lachen, hatte den Hut noch etwas kühner schief gesetzt und kam sich wie
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ein ausbündig fideler Kerl vor. Der Frankfurter pfiff wieder auf seine
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kriegerische Art und Hans versuchte im Takt dazu zu gehen.
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Im »Scharfen Eck« war's ziemlich still. Ein paar Bauern tranken neuen
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Wein. Es gab kein offenes Bier, nur Flaschen, und sogleich bekam jeder
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eine vorgesetzt. Der fremde Geselle wollte sich nobel zeigen und
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bestellte für alle zusammen einen großen Apfelkuchen. Hans fühlte
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plötzlich einen gewaltigen Hunger und aß hintereinander ein paar Stücke
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davon. Es saß sich dämmerig und bequem in der alten braunen Wirtsstube
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auf den festen, breiten Wandbänken. Die altmodische Kredenz und der
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riesige Ofen verschwanden im Halbdunkel, in einem großen Käfig mit
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Holzstäben flatterten zwei Meisen, denen ein voller Zweig roter
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Vogelbeeren als Futter durchs Gestäbe gesteckt war.
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Der Wirt trat für einen Augenblick an den Tisch und hieß die Gäste
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willkommen. Darauf dauerte es eine Weile, bis ein Gespräch zurecht kam.
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Hans nahm einige Schlückchen von dem scharfen Flaschenbier und war
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neugierig, ob er wohl noch mit der ganzen Flasche fertig werden würde.
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Der Frankfurter schwadronierte wieder grausam von rheinländischen
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Weinbergfesten, von Wanderschaft und Pennenleben; man hörte ihm fröhlich
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zu und auch Hans kam aus dem Lachen nicht mehr heraus.
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Auf einmal merkte er, daß es mit ihm nicht mehr ganz richtig sei. Alle
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Augenblicke flossen ihm Zimmer, Tisch, Flaschen, Gläser und Kameraden zu
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einem sanften braunen Gewölk zusammen und nahmen nur, wenn er sich
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kräftig aufraffte, wieder Gestalt an. Von Zeit zu Zeit, wenn Gespräch
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und Gelächter heftiger anschwoll, lachte er laut mit oder sagte etwas,
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was er sogleich wieder vergaß. Wenn angestoßen wurde, tat er mit, und
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nach einer Stunde sah er mit Erstaunen, daß seine Flasche leer war.
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»Du hast einen guten Zug«, sagte August. »Willst noch eine?«
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Hans nickte lachend. Er hatte sich so eine Trinkerei viel gefährlicher
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vorgestellt. Und als jetzt der Frankfurter ein Lied anstimmte und alle
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einfielen, da sang auch er aus voller Kehle mit.
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Mittlerweile hatte sich die Stube gefüllt und es kam die Wirtstochter,
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um der Kellnerin im Bedienen zu helfen. Sie war eine große, schön
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gewachsene Person mit einem gesunden, kräftigen Gesicht und ruhigen,
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braunen Augen.
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Als sie die neue Flasche vor Hans hinstellte, bombardierte sie sogleich
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der daneben sitzende Geselle mit seinen zierlichsten Galanterien, denen
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sie aber kein Gehör gab. Vielleicht, um jenem ihre Nichtachtung zu
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zeigen, oder vielleicht, weil sie an dem feinen Bubenköpfchen Gefallen
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fand, wandte sie sich zu Hans und fuhr ihm schnell mit der Hand übers
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Haar; dann ging sie in die Kredenz zurück.
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Der Geselle, der schon an der dritten Flasche war, folgte ihr und gab
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sich alle Mühe, ein Gespräch mit ihr in Gang zu bringen, aber ohne
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Erfolg. Das große Mädchen sah ihn gleichmütig an, gab keine Antwort und
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kehrte ihm bald den Rücken zu. Da kam er an den Tisch zurück, trommelte
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mit der leeren Flasche und rief mit plötzlicher Begeisterung: »Wir
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wollen fidel sein, Kinder; stoßet an!«
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Und nun erzählte er eine saftige Weibergeschichte.
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Hans hörte nur noch ein trübes Stimmengemisch und als er mit seiner
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zweiten Flasche nahezu fertig war, begann ihm das Sprechen und sogar das
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Lachen schwer zu fallen. Er wollte zu dem Meisenkäfig hinübergehen und
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die Vögel ein wenig necken; aber nach zwei Schritten wurde ihm
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schwindlig, er wäre ums Haar gestürzt und kehrte vorsichtig um.
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Von da an ließ seine ausgelassene Fröhlichkeit mehr und mehr nach. Er
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wußte, daß er einen Rausch habe, und die ganze Trinkerei kam ihm nimmer
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lustig vor. Und wie in einer weiten Ferne sah er allerlei Unheil ihn
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erwarten: Den Heimweg, einen bösen Auftritt mit dem Vater und morgen
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früh wieder die Werkstatt. Allmählich schmerzte ihm auch der Kopf.
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Auch die andern hatten des Guten genug geleistet. In einem klaren
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Augenblick begehrte August zu zahlen und bekam auf seinen Taler wenig
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heraus. Schwatzend und lachend ging man auf die Straße, vom hellen
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Abendlicht geblendet. Hans konnte sich kaum mehr aufrecht halten, er
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lehnte sich schwankend an August und ließ sich von ihm mitziehen.
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Der fremde Schlosser war sentimental geworden. Er sang »Morgen muß ich
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fort von hier« und hatte Tränen in den Augen.
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Eigentlich wollte man heimgehen, aber als man am »Schwanen« vorüberkam,
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bestand der Geselle drauf, noch hineinzugehen. Unter der Türe machte
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Hans sich los.
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»Ich muß heim.«
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»Du kannst ja nimmer allein laufen«, lachte der Geselle.
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»Doch, doch. Ich -- muß -- heim.«
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»So nimm wenigstens noch einen Schnaps, Kleiner! Der hilft dir auf die
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Beine und bringt den Magen in Ordnung. Jawohl, du wirst sehen.«
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Hans spürte ein kleines Glas in seiner Hand. Er verschüttete viel davon,
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den Rest schluckte er und fühlte ihn wie Feuer im Schlunde brennen. Ein
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heftiger Ekel schüttelte ihn. Allein taumelte er die Vortreppe hinab und
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kam, er wußte nicht wie, zum Dorf hinaus. Häuser, Zäune und Gärten
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drehten sich schief und wirr an ihm vorüber.
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Unter einem Apfelbaum legte er sich in die feuchte Wiese. Eine Menge von
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widerlichen Gefühlen, quälenden Befürchtungen und halbfertigen Gedanken
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hinderte ihn am Einschlafen. Er kam sich beschmutzt und geschändet vor.
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Wie sollte er nach Haus kommen? Was sollte er dem Vater sagen? Und was
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sollte morgen aus ihm werden? Er kam sich so gebrochen und elend vor,
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als müsse er nun eine Ewigkeit ruhen, schlafen, sich schämen. Kopf und
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Augen taten ihm weh und er fühlte nicht einmal soviel Kraft in sich, um
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aufzustehen und weiterzugehen.
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Plötzlich kam wie eine verspätete, flüchtige Welle ein Anflug der
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vorigen Lustigkeit zurück; er schnitt eine Grimasse und sang vor sich
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hin:
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O du lieber Augustin,
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Augustin, Augustin,
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|
O du lieber Augustin,
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Alles ist hin.
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Und kaum hatte er ausgesungen, so tat ihm etwas im Innersten weh und
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stürmte eine trübe Flut von unklaren Vorstellungen und Erinnerungen, von
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Scham und Selbstvorwürfen auf ihn ein. Er stöhnte laut und sank
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schluchzend ins Gras.
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Nach einer Stunde, es dunkelte schon, erhob er sich und schritt unsicher
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und mühsam bergabwärts.
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Herr Giebenrath hatte ausgiebig geschimpft, als sein Bub zum Nachtessen
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ausgeblieben war. Als es neun Uhr wurde und Hans noch immer nicht da
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war, legte er ein lang nicht mehr gebrauchtes, starkes Meerrohr bereit.
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Der Kerl meinte wohl, er sei der väterlichen Rute bereits entwachsen?
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Der konnte sich gratulieren, wenn er heimkam!
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Um zehn Uhr verschloß er die Haustüre. Wenn der Herr Sohn nachtschwärmen
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wollte, konnte er ja sehen, wo er bliebe.
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Trotzdem schlief er nicht, sondern wartete mit wachsendem Grimm von
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Stunde zu Stunde darauf, daß eine Hand die Klinke probiere und
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schüchtern an der Glocke ziehe. Er stellte sich die Szene vor -- der
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Herumtreiber konnte ja was erleben! Wahrscheinlich würde der Lausbub
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besoffen sein, aber er würde dann schon nüchtern werden, der Bengel, der
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Heimtücker, der elendige! Und wenn er ihm alle Knochen abeinander hauen
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mußte.
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Endlich bezwang ihn und seine Wut der Schlaf.
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Zu derselben Zeit trieb der so bedrohte Hans schon kühl und still und
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langsam im dunklen Flusse talabwärts. Ekel, Scham und Leid waren von ihm
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genommen, auf seinen dunkel dahintreibenden, schmächtigen Körper schaute
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die kalte, bläuliche Herbstnacht herab, mit seinen Händen und Haaren und
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erblaßten Lippen spielte das schwarze Wasser. Niemand sah ihn, wenn
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||
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nicht etwa der vor Tagesanbruch auf Jagd ziehende scheue Fischotter, der
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ihn listig beäugte und lautlos an ihm vorüberglitt. Niemand wußte auch,
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wie er ins Wasser geraten sei. Er war vielleicht verirrt und an einer
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abschüssigen Stelle ausgeglitten; er hatte vielleicht trinken wollen und
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das Gleichgewicht verloren. Vielleicht hatte der Anblick des schönen
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Wassers ihn gelockt, daß er sich darüber beugte und da ihm Nacht und
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Mondblässe so voll Frieden und tiefer Rast entgegenblickten, trieb ihn
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Müdigkeit und Angst mit stillem Zwang in die Schatten des Todes.
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Am Tage fand man ihn und trug ihn heim. Der erschrockene Vater mußte
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seinen Stock beiseite tun und seinen angesammelten Grimm fahren lassen.
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Zwar weinte er nicht und ließ sich wenig merken, aber in der folgenden
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Nacht blieb er wieder wach und blickte zuweilen durch den Türspalt zu
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seinem stillgewordenen Kinde hinüber, das auf einem reinen Bette lag und
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noch immer mit der feinen Stirn und dem bleichen, klugen Gesicht so
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aussah, als wäre es etwas Besonderes und habe das eingeborne Recht, ein
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anderes Schicksal als andere zu haben. An Stirn und Händen war die Haut
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ein wenig bläulichrot abgeschürft, die hübschen Züge schlummerten, über
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den Augen lagen die weißen Lider und der nicht ganz geschlossene Mund
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sah zufrieden und beinahe heiter aus. Es hatte das Ansehen, der Junge
|
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sei plötzlich in der Blüte gebrochen und aus einer freudigen Bahn
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gerissen, und auch der Vater erlag in seiner Müdigkeit und einsamen
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Trauer dieser lächelnden Täuschung.
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Die Beerdigung zog eine große Zahl von Mitgängern und Neugierigen an.
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Wieder war Hans Giebenrath eine Berühmtheit geworden, für die sich jeder
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interessierte, und wieder nahmen die Lehrer, der Rektor und der
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Stadtpfarrer an seinem Schicksal teil. Sie erschienen sämtlich in
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Gehröcken und feierlichen Zylindern, begleiteten den Leichenzug und
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||
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blieben am Grabe einen Augenblick stehen, untereinander flüsternd. Der
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Lateinlehrer sah besonders melancholisch aus und der Rektor sagte leise
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zu ihm: »Ja, Herr Professor, aus dem hätte etwas werden können. Ist es
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||
|
nicht ein Elend, daß man gerade mit den Besten fast immer Pech hat?«
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Beim Vater und der alten Anna, die ununterbrochen heulte, blieb der
|
||
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Meister Flaig am Grabe zurück.
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»Ja, so was ist herb, Herr Giebenrath«, sagte er teilnehmend. »Ich habe
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||
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den Buben auch lieb gehabt.«
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»Man begreift's nicht«, seufzte Giebenrath. »Er ist so begabt gewesen,
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und alles ist ja auch gut gegangen, Schule, Examen -- und dann auf
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einmal ein Unglück übers andere!«
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Der Schuhmacher deutete den durchs Kirchhoftor abziehenden Gehröcken
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nach.
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»Dort laufen ein paar Herren,« sagte er leise, »die haben auch
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mitgeholfen, ihn so weit zu bringen.«
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»Was?« fuhr der andere auf und starrte den Schuster zweifelnd und
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erschrocken an. »Ja, Sackerlot, wieso denn?«
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»Seien Sie ruhig, Herr Nachbar. Ich hab' bloß die Schulmeister gemeint.«
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»Wieso? Wie denn?«
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»Ach, nichts weiter. Und Sie und ich, wir haben vielleicht auch
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mancherlei an dem Buben versäumt, meinen Sie nicht?«
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Über dem Städtchen war ein fröhlich blauer Himmel ausgespannt, im Tale
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glitzerte der Fluß, die Tannenberge blauten weich und sehnlich in die
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Weite. Der Schuhmacher lächelte fein und traurig und nahm des Mannes
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Arm, der aus der Stille und seltsam schmerzlichen Gedankenfülle dieser
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Stunde zögernd und verlegen den Niederungen seines gewohnten Daseins
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entgegenschritt.
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Ende
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|
Anmerkungen zur Transkription
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Der Originaltext ist in Fraktur gesetzt. Textstellen, die im Original in
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|
Antiqua gesetzt waren, wurden ^so^ markiert.
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|
Offensichtliche Druckfehler wurden berichtigt wie hier aufgeführt,
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|
teilweise unter Verwendung späterer Ausgaben (vorher/nachher):
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[S. 15]:
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... sich vorzustellen, der Floß sei unterwegs, fahre bald ...
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|
... sich vorzustellen, das Floß sei unterwegs, fahre bald ...
|
||
|
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[S. 40]:
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||
|
... Schon am frühen Vormittag stand Hans im Ohrn des ...
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|
... Schon am frühen Vormittag stand Hans im Öhrn des ...
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||
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[S. 58]:
|
||
|
... »Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderwo, »dann schreib ...
|
||
|
... »Wenn du Heimweh hast,« hieß es anderswo, »dann schreib ...
|
||
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|
[S. 70]:
|
||
|
... hiebei zum erstenmal die keimende Bildung einer
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|
Persönlichkeit ...
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||
|
... hierbei zum erstenmal die keimende Bildung einer
|
||
|
Persönlichkeit ...
|
||
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||
|
[S. 119]:
|
||
|
... bedauernden abzuändern, was ihm leicht viel und gut stand. ...
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|
... bedauernden abzuändern, was ihm leicht fiel und gut stand. ...
|
||
|
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||
|
[S. 146]:
|
||
|
... Presse gegenüber gestanden war, wie sie ihn aus ihren Becher ...
|
||
|
... Presse gegenüber gestanden war, wie sie ihn aus ihrem Becher ...
|
||
|
|
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|
[S. 163]:
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||
|
... August den neuen Lehrbuben. Er redete ihn aufmunternd zu ...
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||
|
... August den neuen Lehrbuben. Er redete ihm aufmunternd zu ...
|
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End of the Project Gutenberg EBook of Unterm Rad, by Hermann Hesse
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*** END OF THIS PROJECT GUTENBERG EBOOK UNTERM RAD ***
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***** This file should be named 49908-8.txt or 49908-8.zip *****
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This and all associated files of various formats will be found in:
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http://www.gutenberg.org/4/9/9/0/49908/
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Produced by Norbert H. Langkau, Jens Sadowski, and the
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Online Distributed Proofreading Team at http://www.pgdp.net
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Updated editions will replace the previous one--the old editions will
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be renamed.
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Creating the works from print editions not protected by U.S. copyright
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law means that no one owns a United States copyright in these works,
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so the Foundation (and you!) can copy and distribute it in the United
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States without permission and without paying copyright
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royalties. Special rules, set forth in the General Terms of Use part
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of this license, apply to copying and distributing Project
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|
Gutenberg-tm electronic works to protect the PROJECT GUTENBERG-tm
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concept and trademark. Project Gutenberg is a registered trademark,
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and may not be used if you charge for the eBooks, unless you receive
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specific permission. If you do not charge anything for copies of this
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||
|
eBook, complying with the rules is very easy. You may use this eBook
|
||
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for nearly any purpose such as creation of derivative works, reports,
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performances and research. They may be modified and printed and given
|
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|
away--you may do practically ANYTHING in the United States with eBooks
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||
|
not protected by U.S. copyright law. Redistribution is subject to the
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trademark license, especially commercial redistribution.
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START: FULL LICENSE
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THE FULL PROJECT GUTENBERG LICENSE
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PLEASE READ THIS BEFORE YOU DISTRIBUTE OR USE THIS WORK
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To protect the Project Gutenberg-tm mission of promoting the free
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distribution of electronic works, by using or distributing this work
|
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|
(or any other work associated in any way with the phrase "Project
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|
Gutenberg"), you agree to comply with all the terms of the Full
|
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|
Project Gutenberg-tm License available with this file or online at
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www.gutenberg.org/license.
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Section 1. General Terms of Use and Redistributing Project
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Gutenberg-tm electronic works
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1.A. By reading or using any part of this Project Gutenberg-tm
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electronic work, you indicate that you have read, understand, agree to
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and accept all the terms of this license and intellectual property
|
||
|
(trademark/copyright) agreement. If you do not agree to abide by all
|
||
|
the terms of this agreement, you must cease using and return or
|
||
|
destroy all copies of Project Gutenberg-tm electronic works in your
|
||
|
possession. If you paid a fee for obtaining a copy of or access to a
|
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|
Project Gutenberg-tm electronic work and you do not agree to be bound
|
||
|
by the terms of this agreement, you may obtain a refund from the
|
||
|
person or entity to whom you paid the fee as set forth in paragraph
|
||
|
1.E.8.
|
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|
1.B. "Project Gutenberg" is a registered trademark. It may only be
|
||
|
used on or associated in any way with an electronic work by people who
|
||
|
agree to be bound by the terms of this agreement. There are a few
|
||
|
things that you can do with most Project Gutenberg-tm electronic works
|
||
|
even without complying with the full terms of this agreement. See
|
||
|
paragraph 1.C below. There are a lot of things you can do with Project
|
||
|
Gutenberg-tm electronic works if you follow the terms of this
|
||
|
agreement and help preserve free future access to Project Gutenberg-tm
|
||
|
electronic works. See paragraph 1.E below.
|
||
|
|
||
|
1.C. The Project Gutenberg Literary Archive Foundation ("the
|
||
|
Foundation" or PGLAF), owns a compilation copyright in the collection
|
||
|
of Project Gutenberg-tm electronic works. Nearly all the individual
|
||
|
works in the collection are in the public domain in the United
|
||
|
States. If an individual work is unprotected by copyright law in the
|
||
|
United States and you are located in the United States, we do not
|
||
|
claim a right to prevent you from copying, distributing, performing,
|
||
|
displaying or creating derivative works based on the work as long as
|
||
|
all references to Project Gutenberg are removed. Of course, we hope
|
||
|
that you will support the Project Gutenberg-tm mission of promoting
|
||
|
free access to electronic works by freely sharing Project Gutenberg-tm
|
||
|
works in compliance with the terms of this agreement for keeping the
|
||
|
Project Gutenberg-tm name associated with the work. You can easily
|
||
|
comply with the terms of this agreement by keeping this work in the
|
||
|
same format with its attached full Project Gutenberg-tm License when
|
||
|
you share it without charge with others.
|
||
|
|
||
|
1.D. The copyright laws of the place where you are located also govern
|
||
|
what you can do with this work. Copyright laws in most countries are
|
||
|
in a constant state of change. If you are outside the United States,
|
||
|
check the laws of your country in addition to the terms of this
|
||
|
agreement before downloading, copying, displaying, performing,
|
||
|
distributing or creating derivative works based on this work or any
|
||
|
other Project Gutenberg-tm work. The Foundation makes no
|
||
|
representations concerning the copyright status of any work in any
|
||
|
country outside the United States.
|
||
|
|
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|
1.E. Unless you have removed all references to Project Gutenberg:
|
||
|
|
||
|
1.E.1. The following sentence, with active links to, or other
|
||
|
immediate access to, the full Project Gutenberg-tm License must appear
|
||
|
prominently whenever any copy of a Project Gutenberg-tm work (any work
|
||
|
on which the phrase "Project Gutenberg" appears, or with which the
|
||
|
phrase "Project Gutenberg" is associated) is accessed, displayed,
|
||
|
performed, viewed, copied or distributed:
|
||
|
|
||
|
This eBook is for the use of anyone anywhere in the United States and
|
||
|
most other parts of the world at no cost and with almost no
|
||
|
restrictions whatsoever. You may copy it, give it away or re-use it
|
||
|
under the terms of the Project Gutenberg License included with this
|
||
|
eBook or online at www.gutenberg.org. If you are not located in the
|
||
|
United States, you'll have to check the laws of the country where you
|
||
|
are located before using this ebook.
|
||
|
|
||
|
1.E.2. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is
|
||
|
derived from texts not protected by U.S. copyright law (does not
|
||
|
contain a notice indicating that it is posted with permission of the
|
||
|
copyright holder), the work can be copied and distributed to anyone in
|
||
|
the United States without paying any fees or charges. If you are
|
||
|
redistributing or providing access to a work with the phrase "Project
|
||
|
Gutenberg" associated with or appearing on the work, you must comply
|
||
|
either with the requirements of paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 or
|
||
|
obtain permission for the use of the work and the Project Gutenberg-tm
|
||
|
trademark as set forth in paragraphs 1.E.8 or 1.E.9.
|
||
|
|
||
|
1.E.3. If an individual Project Gutenberg-tm electronic work is posted
|
||
|
with the permission of the copyright holder, your use and distribution
|
||
|
must comply with both paragraphs 1.E.1 through 1.E.7 and any
|
||
|
additional terms imposed by the copyright holder. Additional terms
|
||
|
will be linked to the Project Gutenberg-tm License for all works
|
||
|
posted with the permission of the copyright holder found at the
|
||
|
beginning of this work.
|
||
|
|
||
|
1.E.4. Do not unlink or detach or remove the full Project Gutenberg-tm
|
||
|
License terms from this work, or any files containing a part of this
|
||
|
work or any other work associated with Project Gutenberg-tm.
|
||
|
|
||
|
1.E.5. Do not copy, display, perform, distribute or redistribute this
|
||
|
electronic work, or any part of this electronic work, without
|
||
|
prominently displaying the sentence set forth in paragraph 1.E.1 with
|
||
|
active links or immediate access to the full terms of the Project
|
||
|
Gutenberg-tm License.
|
||
|
|
||
|
1.E.6. You may convert to and distribute this work in any binary,
|
||
|
compressed, marked up, nonproprietary or proprietary form, including
|
||
|
any word processing or hypertext form. However, if you provide access
|
||
|
to or distribute copies of a Project Gutenberg-tm work in a format
|
||
|
other than "Plain Vanilla ASCII" or other format used in the official
|
||
|
version posted on the official Project Gutenberg-tm web site
|
||
|
(www.gutenberg.org), you must, at no additional cost, fee or expense
|
||
|
to the user, provide a copy, a means of exporting a copy, or a means
|
||
|
of obtaining a copy upon request, of the work in its original "Plain
|
||
|
Vanilla ASCII" or other form. Any alternate format must include the
|
||
|
full Project Gutenberg-tm License as specified in paragraph 1.E.1.
|
||
|
|
||
|
1.E.7. Do not charge a fee for access to, viewing, displaying,
|
||
|
performing, copying or distributing any Project Gutenberg-tm works
|
||
|
unless you comply with paragraph 1.E.8 or 1.E.9.
|
||
|
|
||
|
1.E.8. You may charge a reasonable fee for copies of or providing
|
||
|
access to or distributing Project Gutenberg-tm electronic works
|
||
|
provided that
|
||
|
|
||
|
* You pay a royalty fee of 20% of the gross profits you derive from
|
||
|
the use of Project Gutenberg-tm works calculated using the method
|
||
|
you already use to calculate your applicable taxes. The fee is owed
|
||
|
to the owner of the Project Gutenberg-tm trademark, but he has
|
||
|
agreed to donate royalties under this paragraph to the Project
|
||
|
Gutenberg Literary Archive Foundation. Royalty payments must be paid
|
||
|
within 60 days following each date on which you prepare (or are
|
||
|
legally required to prepare) your periodic tax returns. Royalty
|
||
|
payments should be clearly marked as such and sent to the Project
|
||
|
Gutenberg Literary Archive Foundation at the address specified in
|
||
|
Section 4, "Information about donations to the Project Gutenberg
|
||
|
Literary Archive Foundation."
|
||
|
|
||
|
* You provide a full refund of any money paid by a user who notifies
|
||
|
you in writing (or by e-mail) within 30 days of receipt that s/he
|
||
|
does not agree to the terms of the full Project Gutenberg-tm
|
||
|
License. You must require such a user to return or destroy all
|
||
|
copies of the works possessed in a physical medium and discontinue
|
||
|
all use of and all access to other copies of Project Gutenberg-tm
|
||
|
works.
|
||
|
|
||
|
* You provide, in accordance with paragraph 1.F.3, a full refund of
|
||
|
any money paid for a work or a replacement copy, if a defect in the
|
||
|
electronic work is discovered and reported to you within 90 days of
|
||
|
receipt of the work.
|
||
|
|
||
|
* You comply with all other terms of this agreement for free
|
||
|
distribution of Project Gutenberg-tm works.
|
||
|
|
||
|
1.E.9. If you wish to charge a fee or distribute a Project
|
||
|
Gutenberg-tm electronic work or group of works on different terms than
|
||
|
are set forth in this agreement, you must obtain permission in writing
|
||
|
from both the Project Gutenberg Literary Archive Foundation and The
|
||
|
Project Gutenberg Trademark LLC, the owner of the Project Gutenberg-tm
|
||
|
trademark. Contact the Foundation as set forth in Section 3 below.
|
||
|
|
||
|
1.F.
|
||
|
|
||
|
1.F.1. Project Gutenberg volunteers and employees expend considerable
|
||
|
effort to identify, do copyright research on, transcribe and proofread
|
||
|
works not protected by U.S. copyright law in creating the Project
|
||
|
Gutenberg-tm collection. Despite these efforts, Project Gutenberg-tm
|
||
|
electronic works, and the medium on which they may be stored, may
|
||
|
contain "Defects," such as, but not limited to, incomplete, inaccurate
|
||
|
or corrupt data, transcription errors, a copyright or other
|
||
|
intellectual property infringement, a defective or damaged disk or
|
||
|
other medium, a computer virus, or computer codes that damage or
|
||
|
cannot be read by your equipment.
|
||
|
|
||
|
1.F.2. LIMITED WARRANTY, DISCLAIMER OF DAMAGES - Except for the "Right
|
||
|
of Replacement or Refund" described in paragraph 1.F.3, the Project
|
||
|
Gutenberg Literary Archive Foundation, the owner of the Project
|
||
|
Gutenberg-tm trademark, and any other party distributing a Project
|
||
|
Gutenberg-tm electronic work under this agreement, disclaim all
|
||
|
liability to you for damages, costs and expenses, including legal
|
||
|
fees. YOU AGREE THAT YOU HAVE NO REMEDIES FOR NEGLIGENCE, STRICT
|
||
|
LIABILITY, BREACH OF WARRANTY OR BREACH OF CONTRACT EXCEPT THOSE
|
||
|
PROVIDED IN PARAGRAPH 1.F.3. YOU AGREE THAT THE FOUNDATION, THE
|
||
|
TRADEMARK OWNER, AND ANY DISTRIBUTOR UNDER THIS AGREEMENT WILL NOT BE
|
||
|
LIABLE TO YOU FOR ACTUAL, DIRECT, INDIRECT, CONSEQUENTIAL, PUNITIVE OR
|
||
|
INCIDENTAL DAMAGES EVEN IF YOU GIVE NOTICE OF THE POSSIBILITY OF SUCH
|
||
|
DAMAGE.
|
||
|
|
||
|
1.F.3. LIMITED RIGHT OF REPLACEMENT OR REFUND - If you discover a
|
||
|
defect in this electronic work within 90 days of receiving it, you can
|
||
|
receive a refund of the money (if any) you paid for it by sending a
|
||
|
written explanation to the person you received the work from. If you
|
||
|
received the work on a physical medium, you must return the medium
|
||
|
with your written explanation. The person or entity that provided you
|
||
|
with the defective work may elect to provide a replacement copy in
|
||
|
lieu of a refund. If you received the work electronically, the person
|
||
|
or entity providing it to you may choose to give you a second
|
||
|
opportunity to receive the work electronically in lieu of a refund. If
|
||
|
the second copy is also defective, you may demand a refund in writing
|
||
|
without further opportunities to fix the problem.
|
||
|
|
||
|
1.F.4. Except for the limited right of replacement or refund set forth
|
||
|
in paragraph 1.F.3, this work is provided to you 'AS-IS', WITH NO
|
||
|
OTHER WARRANTIES OF ANY KIND, EXPRESS OR IMPLIED, INCLUDING BUT NOT
|
||
|
LIMITED TO WARRANTIES OF MERCHANTABILITY OR FITNESS FOR ANY PURPOSE.
|
||
|
|
||
|
1.F.5. Some states do not allow disclaimers of certain implied
|
||
|
warranties or the exclusion or limitation of certain types of
|
||
|
damages. If any disclaimer or limitation set forth in this agreement
|
||
|
violates the law of the state applicable to this agreement, the
|
||
|
agreement shall be interpreted to make the maximum disclaimer or
|
||
|
limitation permitted by the applicable state law. The invalidity or
|
||
|
unenforceability of any provision of this agreement shall not void the
|
||
|
remaining provisions.
|
||
|
|
||
|
1.F.6. INDEMNITY - You agree to indemnify and hold the Foundation, the
|
||
|
trademark owner, any agent or employee of the Foundation, anyone
|
||
|
providing copies of Project Gutenberg-tm electronic works in
|
||
|
accordance with this agreement, and any volunteers associated with the
|
||
|
production, promotion and distribution of Project Gutenberg-tm
|
||
|
electronic works, harmless from all liability, costs and expenses,
|
||
|
including legal fees, that arise directly or indirectly from any of
|
||
|
the following which you do or cause to occur: (a) distribution of this
|
||
|
or any Project Gutenberg-tm work, (b) alteration, modification, or
|
||
|
additions or deletions to any Project Gutenberg-tm work, and (c) any
|
||
|
Defect you cause.
|
||
|
|
||
|
Section 2. Information about the Mission of Project Gutenberg-tm
|
||
|
|
||
|
Project Gutenberg-tm is synonymous with the free distribution of
|
||
|
electronic works in formats readable by the widest variety of
|
||
|
computers including obsolete, old, middle-aged and new computers. It
|
||
|
exists because of the efforts of hundreds of volunteers and donations
|
||
|
from people in all walks of life.
|
||
|
|
||
|
Volunteers and financial support to provide volunteers with the
|
||
|
assistance they need are critical to reaching Project Gutenberg-tm's
|
||
|
goals and ensuring that the Project Gutenberg-tm collection will
|
||
|
remain freely available for generations to come. In 2001, the Project
|
||
|
Gutenberg Literary Archive Foundation was created to provide a secure
|
||
|
and permanent future for Project Gutenberg-tm and future
|
||
|
generations. To learn more about the Project Gutenberg Literary
|
||
|
Archive Foundation and how your efforts and donations can help, see
|
||
|
Sections 3 and 4 and the Foundation information page at
|
||
|
www.gutenberg.org
|
||
|
|
||
|
|
||
|
|
||
|
Section 3. Information about the Project Gutenberg Literary Archive Foundation
|
||
|
|
||
|
The Project Gutenberg Literary Archive Foundation is a non profit
|
||
|
501(c)(3) educational corporation organized under the laws of the
|
||
|
state of Mississippi and granted tax exempt status by the Internal
|
||
|
Revenue Service. The Foundation's EIN or federal tax identification
|
||
|
number is 64-6221541. Contributions to the Project Gutenberg Literary
|
||
|
Archive Foundation are tax deductible to the full extent permitted by
|
||
|
U.S. federal laws and your state's laws.
|
||
|
|
||
|
The Foundation's principal office is in Fairbanks, Alaska, with the
|
||
|
mailing address: PO Box 750175, Fairbanks, AK 99775, but its
|
||
|
volunteers and employees are scattered throughout numerous
|
||
|
locations. Its business office is located at 809 North 1500 West, Salt
|
||
|
Lake City, UT 84116, (801) 596-1887. Email contact links and up to
|
||
|
date contact information can be found at the Foundation's web site and
|
||
|
official page at www.gutenberg.org/contact
|
||
|
|
||
|
For additional contact information:
|
||
|
|
||
|
Dr. Gregory B. Newby
|
||
|
Chief Executive and Director
|
||
|
gbnewby@pglaf.org
|
||
|
|
||
|
Section 4. Information about Donations to the Project Gutenberg
|
||
|
Literary Archive Foundation
|
||
|
|
||
|
Project Gutenberg-tm depends upon and cannot survive without wide
|
||
|
spread public support and donations to carry out its mission of
|
||
|
increasing the number of public domain and licensed works that can be
|
||
|
freely distributed in machine readable form accessible by the widest
|
||
|
array of equipment including outdated equipment. Many small donations
|
||
|
($1 to $5,000) are particularly important to maintaining tax exempt
|
||
|
status with the IRS.
|
||
|
|
||
|
The Foundation is committed to complying with the laws regulating
|
||
|
charities and charitable donations in all 50 states of the United
|
||
|
States. Compliance requirements are not uniform and it takes a
|
||
|
considerable effort, much paperwork and many fees to meet and keep up
|
||
|
with these requirements. We do not solicit donations in locations
|
||
|
where we have not received written confirmation of compliance. To SEND
|
||
|
DONATIONS or determine the status of compliance for any particular
|
||
|
state visit www.gutenberg.org/donate
|
||
|
|
||
|
While we cannot and do not solicit contributions from states where we
|
||
|
have not met the solicitation requirements, we know of no prohibition
|
||
|
against accepting unsolicited donations from donors in such states who
|
||
|
approach us with offers to donate.
|
||
|
|
||
|
International donations are gratefully accepted, but we cannot make
|
||
|
any statements concerning tax treatment of donations received from
|
||
|
outside the United States. U.S. laws alone swamp our small staff.
|
||
|
|
||
|
Please check the Project Gutenberg Web pages for current donation
|
||
|
methods and addresses. Donations are accepted in a number of other
|
||
|
ways including checks, online payments and credit card donations. To
|
||
|
donate, please visit: www.gutenberg.org/donate
|
||
|
|
||
|
Section 5. General Information About Project Gutenberg-tm electronic works.
|
||
|
|
||
|
Professor Michael S. Hart was the originator of the Project
|
||
|
Gutenberg-tm concept of a library of electronic works that could be
|
||
|
freely shared with anyone. For forty years, he produced and
|
||
|
distributed Project Gutenberg-tm eBooks with only a loose network of
|
||
|
volunteer support.
|
||
|
|
||
|
Project Gutenberg-tm eBooks are often created from several printed
|
||
|
editions, all of which are confirmed as not protected by copyright in
|
||
|
the U.S. unless a copyright notice is included. Thus, we do not
|
||
|
necessarily keep eBooks in compliance with any particular paper
|
||
|
edition.
|
||
|
|
||
|
Most people start at our Web site which has the main PG search
|
||
|
facility: www.gutenberg.org
|
||
|
|
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|
This Web site includes information about Project Gutenberg-tm,
|
||
|
including how to make donations to the Project Gutenberg Literary
|
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|
Archive Foundation, how to help produce our new eBooks, and how to
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subscribe to our email newsletter to hear about new eBooks.
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